Besuch vor dem Fenster

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Allgemein

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Aus dem Tagebuch der Staatsarchiv-Mitarbeiterin Daniela Meier.

Jahrein, jahraus dürfen wir hier am Staatsarchiv täglich viele Besucherinnen und Besucher begrüssen. Seien es Forscher, Laien oder ganz einfach Personen, welche das markante Gebäude einmal von innen sehen wollen.

Ein Besucher der besonderen Art kam am vergangenen Donnerstag zu uns. Alles fing damit an, dass ich meine Kollegin früh am Morgen in der Digitalisierungsabteilung irgendetwas Unverständliches rufen hörte. Da dies eigentlich nicht ihre Art ist, ging ich zu ihr und erkundigte mich, was denn los sei. Sie stand am Fenster und schaute hinaus. Gerade hatten zwei Krähen einen anderen Vogel gejagt und hatten ihn auf dem Dach, welches von besagtem Fenster aus gut sichtbar war, zum Absturz gebracht. Und tatsächlich: In der Regenrinne sass ein Turmfalke. Totstellen schien seine Devise zu sein. Nach einiger Zeit versuchte der kleine Kerl unter erheblichem Kraftaufwand, zum First hoch zu klettern. Ohne Erfolg. Nach wenigen Schritten rutschte er wieder zum Ausgangspunkt zurück. Er war offensichtlich noch sehr jung und wusste nicht, wie man fliegt. Was sollten wir also tun? Feuerwehr, Polizei, Zolli, Tierschutzbund rufen? Oder den Vogel sich selbst und der Natur überlassen? Kurz darauf stellten wir fest, dass er anfing, sich ausgiebig das Gefieder zu putzen. Dies werteten wir als gutes Zeichen. Wir beschlossen, ihm einfach Zeit zu lassen, zumal wir ihn immer im Auge behalten konnten.

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Nach der Mittagspause veränderte sich die Situation jedoch dramatisch. Wir hatten die Rechnung ohne den Lauf der Sonne gemacht. Der Schattenwurf des Türmchens, unter welchem der Falke sass, wurde immer schmaler, bis er schliesslich ganz in der brütenden Sonne sass. Wir hatten an diesem Tag 34°. Der arme Kerl wurde zunehmend unruhig. Er breitete immer wieder die Flügel aus und drückte sich flach auf das Dach, den Schnabel weit aufgerissen. Ich konnte der Situation nicht mehr länger zuschauen. Kurzerhand riss ich das Fenster auf und begann mit ihm zu reden. Die Annahme, dass Tiere den Menschen verstehen würden, scheint ein Reflex zu sein. Oder reden Sie etwa nicht mit Katzen oder Hunden, die Ihnen über den Weg laufen? Ich musste in dieser Situation über mich selbst lachen. Der Falke reagierte tatsächlich und begann heftig mit seinem Hinterteil zu wackeln. Genervt von der heissen Luft, welche in unser Zimmer strömte, schloss ich das Fenster wieder. Genau in diesem Moment nahm der Falke einen riesen Satz, schlug zweimal mit den Flügeln, knallte in mein Fenster und landete vor mir auf dem Sims. Ich weiss nicht, wer von uns überraschter war. Er, weil er es geschafft hatte, zu fliegen. Oder ich, weil ich plötzlich dieses wunderschöne Tier vor meiner Nase sitzen hatte. Fliegen konnte SIE (denn erst jetzt sah ich anhand des Federnkleides, dass es ein Weibchen war) also. Aber bei mir am Fenster hatte es auch keinen Schatten. Im Gegenteil, hier schien es noch heisser als auf dem Dach zu sein. Mit weit geöffnetem Schnabel sass sie vor mir und atmete so fest wie ein Spitzensportler nach einem Marathon. Ich war total fasziniert. Oder haben Sie etwa schon einmal die Zunge eines Falken gesehen? Sie war wirklich noch sehr jung: Auf dem Kopf und an den Flügeln hatte sie noch Reste von Flaum.

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Mittlerweile hatte es auf dem Sims in einer kleinen Ecke Schatten gegeben. Das Falkenmädchen hatte dies auch bemerkt und watschelte hinüber. Glücklicherweise kam gerade in diesem Moment Hilfe in Form unseres Personalchefs vorbei. Wir beschlossen, ihr ein wenig Wasser hinauszustellen und dann professionelle Hilfe zu holen. Als er vorsichtig das Fenster öffnete, flog sie davon. Als ob nichts gewesen wäre.

Als ich am Abend aus dem Staatsarchiv heraustrat, hörte ich irgendwo von einem der umliegenden Dächer den Ruf eines Falken. Ich blieb stehen und merkte plötzlich, dass es nicht nur einer, sondern zwei oder mehr waren. Ich weiss nicht, was mit unserem Falkenmädchen passiert ist, hoffe aber sehr, dass sie sich in ihrem zukünftigen Leben gegen Krähen und andere Feinde durchsetzen kann und sie ihr kleines Rencontre mit uns Menschen in guter Erinnerung behalten wird.

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