Der Mann im blauen Kittel

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Allgemein, Aus dem Lesesaal

Alioth

Ein literarisches Denkmal für das Staatsarchiv Basel-Stadt: Gabrielle Alioths neuester Roman „Die entwendete Handschrift“ dreht sich um Geschichte, Lebensgeschichten und Historiker. Immer wieder Schauplatz: das Staatsarchiv, wo eine der Hauptfiguren arbeitete. Wer jemals an der Martinsgasse 2 war, erkennt unschwer Lokalitäten, Atmosphäre und sogar einzelne Personen wieder …  Zum Beispiel den Mann im blauen Kittel, 35 Jahre lang eine bekannte und beliebte Figur im Lesesaal. Andere Charaktere allerdings sind aus handlungstechnischen Gründen erfunden oder frei ausgeschmückt – die Mitarbeitenden im Staatsarchiv sind doch durchwegs freundlich und benutzerorientiert.

Selber lesen macht Spass. Hier ein kleiner Auszug:

Basel, 27. April 2015
„Du willst alle Schachteln nochmals?“ Miriam zieht ihre geschwärzten Augenbrauen hoch. Laura kommt sich wie ein Schulmädchen vor. „Ja, ich muss etwas übersehen haben.“ Den ganzen Morgen hat sie in Hans‘ Biographie gelesen, aber keinen Hinweis auf Richards Dissertation darin gefunden, als sei diese gar nie geschrieben worden. Zehn vor zwei hat sie sich auf den Weg ins Archiv gemacht. Mit einem Schnauben wendet Miriam sich ihrem Bildschirm zu. Laura betrachtet die von neogotischen Säulen getragenen Bogenfenster; der Raum hat sie stets an Illustrationen aus Märchenbüchern erinnert. „Es tut mir leid, entschuldigt sie sich leise beim Lesesaalangestellten, als er ihr die ersten Schachteln wieder bringt. „Kein Problem“, brummt er. „Petersons Sachen trage ich gerne herum.“ Miriam fixiert die in der Lesesalruhe Redenden strafend von ihrem Pult aus. Dennoch fragt Laura: „Er war ein guter Archivar?“ „Vorbildlich. Unter ihm waren die Bestände in perfekter Ordnung, jedes Protokoll an seinem Platz, jede Abbildung. Da gab es keine Ausnahme.“ Der Mann in dem blauen Übermantel wirft Miriam einen grimmmigen Blick zu, dann trottet er davon.

(S. 81)