Ein Jugendlicher vor Gericht

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Archivpädagogik

StABS Workshop Gaston Dreher 1 StABS Workshop Gaston Dreher 2

Ein 15-Jähriger macht gestohlene Dinge zu Geld – eine Geschichte aus den frühen 1920er-Jahren. Oder: Das Archiv als ausserschulischer Lernort. Ein Beitrag von Hermann Wichers, Leiter Abteilung Benutzung.

Am 22. Februar 2016 besuchten 17 Schülerinnen und Schüler einer zweiten Klasse der FMS Liestal das Staatsarchiv. Im Vorlesungsraum fand ein 3½-stündiger Workshop statt. Begleitende Lehrpersonen waren Ursula Buchholz (Deutschlehrerin) und Antonia Schmidlin (Geschichtslehrerin). Die Leitung lag bei Antonia Schmidlin sowie Hermann Wichers und Sabine Strebel vom Staatsarchiv,  welche den Workshop im Rahmen eines gemeinsamen, von der Dr. H.A. Voegelin-Bienz-Stiftung geförderten Projekts erarbeitet hatten.

Im Zentrum stand ein Gerichtsfall aus dem Jahre 1922, zu dem die Verfahrensakte des Strafgerichts aus dem Gerichtsarchiv (Gerichtsarchiv JJ 1 1922-77) herangezogen wurde. Die Akte enthält die Vorakten aus der polizeilichen Ermittlung, beigefügte Beweismittel, Untersuchungsakten und Anklageschrift der Staatsanwaltschaft sowie das abschliessende Urteil des Strafgerichts. Zur Vorbereitung wurde die Gerichtsakte digitalisiert. Danach wurden ein ausführliches Lehrerhandbuch mit Hintergrundinformationen erarbeitet sowie Quellenpräsentationen (schriftliche und mündliche), Aufgabenstellungen, Arbeitsblätter und didaktische Anleitungen zusammengestellt.

Beschrieben, getippt, beklebt

Aus der auch materiell „schönen“ gebundenen Akte mit den für das Basler Strafgericht typischen blauen Kartondeckeln lassen sich neben dem Inhalt auch weiterführende Erkenntnisse zur Materialität der Unterlagen gewinnen. So wird der Übergang von hand- zu maschinenschriftlichen Texten in staatlichen Unterlagen erkennbar. Nebst teils noch von Hand geschriebenen Schriftstücken wie polizeilichen Verhörprotokollen und Beweisaufnahmen finden sich maschinengeschriebene Schriftstücke wie Anklageschrift und Urteil. Zudem sind weitere interessante Details zu entdecken: In hebräischer Schrift verfasste beschlagnahmte Notizen eines Beschuldigten, Briefumschläge, welche aus Altpapier ausgesonderter Akten zusammengeklebt wurden, aber auch heute nicht mehr gängige Papierformate. Auffällig ist auch, dass alle handschriftlichen Texte bereits in lateinischer Schrift verfasst sind, was der Lesbarkeit für Schülerinnen und Schüler förderlich ist, da es keiner Kenntnisse der deutschen Kurrentschrift bedarf.

Das jüdische Basel

Der Fall ist gut überschaubar, leicht verständlich, umfasst aber neben dem Täter ein reichhaltiges Spektrum an Personen: Nachbarinnen, einen Rabbiner, einen Sekundarlehrer, einen Detektiv, Polizeibeamte, die Mutter des jugendlichen Täters sowie einen ebenfalls beschuldigten ostjüdischen Trödler namens Itzig Feldmann – diese und andere Personen machen Aussagen zum angeschuldigten Gaston Dreher, einem 15jährigen Jugendlichen, der in einer für seine Familie und ihn wegen einer dramatischen Erkrankung des Vaters persönlich schwierigen Zeit delinquent wird und seine Mutter sowie einen Nachbarn bestiehlt. Man erhält zudem einen interessanten Einblick in das jüdische Basel nach dem Ersten Weltkrieg. Gaston Dreher, französischer Staatsbürger und als Jude Angehöriger der kleinen religiösen Minderheit, bewegte sich in zwei Welten. Einerseits besuchte er zwischen 1914 und 1922 die Basler Staatsschulen, andererseits die jüdische Religionsschule. Zudem lassen sich, z.B. ausgehend von der Liste der im elterlichen Haushalt gestohlenen Gegenstände, Informationen zum damaligen Alltag gewinnen. Hier können die Schülerinnen und Schüler eine Reihe von Gegenständen (z.B. Kleidungsstücke) entdecken, die heute nicht mehr gebräuchlich und damit auch nicht mehr vertraut sind, in den 1920er-Jahren aber noch in vielen Haushalten zu finden waren.

Arbeitsschritte

Ausgehend von der aufgenommenen Anzeige und dem entsprechenden Rapport der Polizei vom 23. Oktober 1922 sowie der anschliessenden  Untersuchung (Zeugenbefragungen vom 25. Oktober 1922, Liste der beschlagnahmten Gegenstände, Jugendlichen-Erhebungen über Dreher Gaston vom 1. November 1922) mussten die Schülerinnen und Schüler ein Arbeitsblatt mit konkreten Fragen zum Hergang (Sachinformationen) ausfüllen und Stellung beziehen, wie sie das Verhalten der einzelnen Beteiligten bzw. deren Glaubwürdigkeit einschätzen. Alle vier Schriftstücke lagen als Farbkopie vor, um den Eindruck des Originals zu vermitteln, zu den handgeschriebenen Texten war eine Transkription vorbereitet, auf die zurückgegriffen werden konnte.

In einem zweiten Arbeitsschritt wurden die Einvernahmen der Beschuldigten aus der Voruntersuchung (Befragung von Gaston Dreher am 1. November 1922 und Richterliche Voruntersuchung über Itzig Feldmann am 8. November 1922) als Hörtexte vorgestellt. Nun ging es um die Wiedergabe des Gehörten und die erneute Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Aussagen. Dieser Medienwechsel erwies sich als fruchtbar, erforderte er doch eine erhöhte Konzentration und einen anderen Zugang zur Information. Als letzte Arbeitsaufgabe in diesem Teil erfolgte die Lektüre des Beschluss der Überweisungsbehörde vom 9. November 1922 mit der Anklageerhebung gegen den Trödler Feldmann und der Überweisung Gaston Drehers an die Vormundschaftsbehörde. Hier stand die Entschlüsselung der juristischen „Behördensprache“ im Vordergrund. Zudem wurden Informationen über den Verlauf des weiteren vormundschaftlichen Verfahrens (Unterbringung Gaston Drehers in einer Anstalt und Beginn einer Berufsausbildung) zur Verfügung gestellt. Danach  wurde das Urteil des Strafgerichts vom 25. November 1922 gegen den Trödler Itzig Feldmann gelesen. Die Schülerinnen und Schüler diskutierten dabei auch das Strafmass und die unterschiedliche Behandlung beider Täter, die Resultate wurden im Plenum vorgestellt. Zum Schluss war ein zweites Arbeitsblattt auszufüllen, das den gesamten Verlauf des Verfahrens rekapitulieren sollte. Dazu wurde das Inhaltsverzeichnis der Gerichtsakte herangezogen.

Basel-Auschwitz

Danach folgte noch eine mündliche Information zum weiteren Schicksal Gaston Drehers, sein Abrutschen in die Kleinkriminalität, die diversen Gefängnisaufenthalte in der Schweiz und Frankreich, seine Ausweisung aus der Schweiz 1931, sein unstetes Leben im elsässisch-schweizerischen Umland bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die angstvollen Jahre im besiegten Frankreich, die Flucht in die Schweiz im Oktober 1943, die anschliessende Festnahme in Basel, die Rückweisung nach Frankreich, die dortige Festnahme und die Deportation nach Auschwitz, wo Dreher im April 1944 ermordet wurde.

Feedback

Die Klasse beteiligte sich motiviert. Laut den Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler war die Geschichte sehr spannend, die Diskussionen zu den gestellten Fragen und Arbeitsaufträgen waren interessant, zu den Arbeitsaufträgen kam keine Kritik. Das Lesen der Primärquellen ermöglichte einen direkteren Zugang zur Geschichte als sonst üblich, die Transkripte waren hilfreich. Der letzte Teil mit Informationen über das weitere Schicksal von Gaston Dreher wurde als zu lang empfunden. Gleiches gilt für die Gesamtdauer des Workshops, da die Klasse schon am Morgen Unterricht hatte (mit Vorteil würde ein ganzer Projekttag eingeplant). Die Klasse hätte gerne etwas vom Archiv (Kurzführung) gesehen.

Auch die beiden Lehrpersonen regten eine Kürzung des Schlussteils sowie den Einbau einer Führung ins Programm an. Die Quellen wurden als eindrücklich bewertet, die Hördokumente hätten sich bewährt. Sowohl die ungewohnte Form der Texte als auch die aus Sicht der Schülerinnen und Schüler fremden Formulierungen erschwerten den Zugang zum Text, nicht zuletzt beim Entziffern der handschriftlichen Dokumente. Gerade die Fremdheit der Schriftquellen motivierte jedoch auch zum Entschlüsseln.