Liebe Grüsse aus Moskau – 2

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Der 27-jährige Emil Speiser hat vor kurzem seine Stelle als Zettelmeister in der Bandfabrik Wirz & Handschin in Moskau angetreten. Nun schildert er seinen Eltern und Geschwistern in Gelterkinden seine ersten Eindrücke:

Moskau, den 12. September 1893

Den Brief, den ich letzten Sonntag an meine Liebe schrieb, werdet Ihr erhalten haben und damit auch erfahren, wie meine ganze Reise verlaufen ist. Natürlich habe ich nur die Hauptsache angeführt und dieselbe nur so vorübergehend beschrieben; wenn ich ja die Sachen, die ich alle gesehn, genauer beschreiben wollte, würde es mir einen halben Tag in Anspruch nehmen. Nun will ich Euch meine Lieben vernehmen lassen, wie es hier im Geschäft geht, u. will das Leben in Moskau so gut ich dasselbe kennen gelernt, beschreiben. Die Arbeitszeit beginnt Morgens 6 Uhr, 8-8 ½ Uhr Morgenessen Kaffe, Brot, mit Butter, um 1 Uhr bis 2 Uhr Mittagessen, immer mit 2 Fleisch 2 Gemüse und auf 3 Mann 2 Flaschen Bier, um 4-4 ¼ Uhr ein Thee mit Brot im Geschäft; um 8 Uhr Feierabend mit Nachtessen immer Fleisch, Gemüse und nacher Thee. An Sonntagen nach dem Mittagessen noch „Tessär“.

Lernerfahrungen im Betrieb

Also wie Ihr daraus seht, kann man mit demselben zufrieden sein und kann sich nicht beklagen; dafür wird aber auch strenge Arbeit verlangt und wie ich nun arbeiten muss, das könnte Ihr Euch jetzt denken, da Ihr ja wisst, wie schwer die Sprache ist, und ebenfalls auch wisst, dass ich noch keine Buchführung kannte. Ich muss nämlich jetzt anfänglich noch nicht die Zettlermeisterstelle besetzen, das heisst nicht die Zettel aufgeben, sondern ich muss die Seide ausgeben u dieselbe wieder zurück nehmen von den Zettlerinnen. Da muss eingeschrieben werden, wie viel Gewicht die Spuhlen, die Rollen haben, wann sie ausgegeben und wann dieselben zurükkommen. Es muss im Buch angegeben sein, was für eine Partie, für eine Farbe und was für eine Zettlerin die Seide hat. Jetzt wenn ich nun frage, was für eine Seite im Buch habt Ihr, da verstehe ich sie noch fast gar nicht, und so ist etwas bald unrichtig eingetragen, dazu habe ich alle Seide aus dem Magazin zu holen und kann daher des Tags durch manchmal dorthin springen, und jedesmal muss die Thüre verschlossen werden, es sind sogar eiserne und zwar zwei auf einander folgende Thüren. Wie gesagt die Sache geht nicht so leicht, wie man sich daheim vorstellt, da heisst es die Gedanken beieinander gehalten; zwei bis 3 Mal fragen, was für eine Nomer, und dazu das Gewicht, die Zahl der Spuhlen u Rollen im Kopfe behalten. Nun ich habe guten Muth diese Sache zu lernen und so wird es bald besser gehn.

Arbeiterleben

Was nun das ganze Geschäft anbelangt, ist es gut eingerichtet und steht nicht zurück mit Euren daheim. Auch ist es nicht so, wie ich daheim gemeint. Die Arbeiter haben nähmlich einen besonderes Haus zum Essen und ein besonderes zum Schlafen, auch hat es Arbeiter die ausserhalb des Ge­schäftes wohnen. Auch ist der Verdienst besser, als man daheim glaubt. z.B. der Geringste Posamenter verdient Kost und Logie abgerechnet 20 Rubel per Monat, der Beste 50 bis 55 Rubel. Wir haben im ganzen Geschäft 224 Stühle, die Sammetstühle mitgerechnet und dann die Maschinen alle zu Zubereitung u. für Ausfertigung der Bänder. Die Gebäude, die zu Allem da sein müssen, könnt Ihr Euch denken. Die Arbeiterwohnungen, die Unserigen, die Fabriken, überhaupt alles was dazu gehört, schliessen im Vierek einen grossen Garten und Hof ab. Was nun die Leute anbetrifft, sind sie etwas unreinlich grobes, aber doch geschicktes Volk und wird sich noch mancher plamiren mit einem Russen zu wetteifern.

Fremde Sitten

Was die Kleider anbelangt, so sehn dieselben gerade aus, wie bei uns an der Fastnacht. Auch sind dieselben ganz anders gemacht z.B. Der Russe (d.h. die Arbeiter) trägt das Hemd über die Hosen hängend mit einem Gürtel zusammen gebunden, die Frauen u Mädchen haben die Brüste hinab gebunden, gerade das Gegentheil, wie bei uns, also die Schürze oben an den Brüsten gebunden. Gewiss einen schauderhaften Anblik. Dagegen kommen dann die reichen Russen sehr schön u so auch wir Angestellte daher. Es kommt mir so unglaublich unbequem vor bei all diesen Bräuchen, die man hier nur beim Essen hat und so auch wenn man in die Wirthschaften der Stadt geht. Es wird z.B. nie keiner mit dem Unterrock in das Wirthschaftslokal treten, man würde Ihn gerade hinaus schicken; da sind immer Vorräume, da ist ein Bedienter, der Einem den Ueberrock, das Gepäck, den Hut den Stock oder Schirm abnimt und beim Ausgehn wieder herschaft. Auch wird aus keinem Glas getrunken, bevor man es selbst mit dem heissen Wasser, das auf dem Tisch steht, ausspühlt. Auch muss man jedesmal dem Kellner ein Trinkgeld geben, ferner dem Bedienten der Kleider. Wenn man dasselbe unterlassen würde oder unter 20 Kopeken gehen würde, so würden ein Solcher es von Einem fordern.

Goldene Kuppeln

Was nun die Stadt anbetrifft, so ist es eben wie in einer Weltstadt, vom Allerschönsten bis zum Allerwüsten. Ich machte letzten Mittwoch, es war nämlich Feiertag, einen Ausflug auf die Sperlingsberge, einen etwa 3-400 Fuss höher gelegenen Punkt, als Moskau. Es ist etwa 1 ½ Stunde von unserm Geschäft entfernt und liegt am Flusse Mosqua. Von diesem Berge aus kann man das ganze Häusermeer der Stadt übersehn, ein überraschender Anblick, soweit man sieht nichts als Häuser und die vielen Kirchthürme, denn es hat in Moskau 600 Kirchen, alle mit vergoldeten Kuppeln. Eine Kirche soll eine massiv goldene Kuppel haben, u. soll 40 Jahr gebraucht haben, bis sie fertig gebaut war. Sie kostete dann auch die hübsche Summe von 26 Millionen Rubel oder 200 Millionen Franken. Ebenso hat es viele Klöster, die in einem ungeheuren Reichthum stecken; denkt Euch wie gross Russland ist, und ein einziges Kloster, natürlich eben das Reichste, wäre im Stande aus dem Reichthum der darin ist, 3 volle Jahre Russland zu ernähren. Solches kommt eben daher, weil die Russen sehr viel auf die Religion legen. Ihr solltet immer die Zeromonien sehn, die der Russe macht, jedesmal wenn er vor der Kirche vorübergeht.

Riesenmassstäbe

Nun von dem Berge herabkommend fuhren ich und Herr Schmidt, ein deutscher Russe, auf einem Boot auf dem Mosqua herum. Das schöne Vergnügen gehabt zu haben gingen wir ans andere Ufer angelangt wieder der Stadt zu. Bemerken muss ich noch, dass Napoleon eben von diesem Berge, wo er auch sein Quartier bezogen hatte, die Stadt Moskau beschossen habe. In die Stadt zurück gekehrt besuchten wir den höchsten Thurm des Kremels, worin die grösste Glocke der Welt hängt und noch eine grössere neben dem Thurme zersprungen auf der Erde liegt. Ein kolosales Ding, diese Gloke und ebenso überraschend ist der Anblick vom Thurme auf die Strasse, da die Leute und Fuhrwerke die unten herfahren, wie ein kleines Spielzeug erscheinen. Weiter gehend von diesem Thurme, kamen wir durch eine Pforte des Kremels hinaus, die heilige Porte genannt, weil Napoleon dieselbe gerade unbetreten verlassen hatte und gerade den grössten Schatz d.h. Reichthum enthielt. Da ist Sitte, dass ein jeder sei er, wer er wolle, den Hut, überhaupt die Kopfbedeckung abnimmt, sonst muss er gewärtigen, dass ihm dieselbe mit einem düchtigen Hieb abgeschlagen wird. Und dasselbe macht der Kaiser so gut wie die armen Leute, oder die reichen Herren und Fräulein. Den Kremel verlassend, sah ich ebenfalls die grösste Kanone der Welt, welch ein Ungeheuer! Daneben die zurückgelassenen Geschütze vom Feldzug Napoleon. Durch das Innere der Stadt gehend, wo es an Palästen und Strassen mit Berlin weteifert, kehrten wir um 8 Uhr Abends zum Nachtessen zurück.

Der Briefeschreiber

10 Jahre lang lebte und arbeitete Emil Speiser in Moskau, bevor er 1903 krankheitsbedingt in die Schweiz zurückkehren musste. 10 Jahre lang schrieb er an seine Eltern und Geschwister, berichtete aus dem Alltag in der Fremde, über das Fabrikleben und die russische Gesellschaft. Auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz und seinem Tod riss der Kontakt mit Moskau nicht ab. Witwe Mina Speiser erhielt weiterhin Briefe von ihren Freundinnen und Bekannten – bis zu den Novembertagen 1917.

Webstühle, Esskultur und Unruhen

Die Briefe im Staatsarchiv erzählen davon, wie es Zettelmeister Speiser in der Bandweberei Handschin & Wirz in Moskau erging; wie der Schweizer mit der russischen Kultur zurechtkam; was er und seine Bekannten von den zunehmenden Unruhen um 1900 miterlebten. Auszüge aus den Briefen werden hier im Blog anlässlich der Museumsnacht 2017, die im Staatsarchiv unter dem Motto „Moskau einfach?“ steht, in einer kleinen Serie veröffentlicht.