Liebe Grüsse aus Moskau – 8

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Allgemein

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C. Frey (hier im Bild mit Kindern um 1902) schreibt an ihre Bekannte Mina Speiser-Wagner:

Moskau, den 30.Dez . 1905 / 12.Jan. 1906

Liebe Frau Speiser!

Schon sind bald 2 Monate vergangen, seit Sie mir geschrieben u. ich will mich nun doch an die Antwort machen. Hatte eigentlich im Sinn, Ihnen aufs Neujahr zu schreiben, es hätte aber nichts genützt, da zuerst die Post u. dann die Eisenbahn nicht arbeitete. Aus den Zeitungen haben Sie gewiss auch gehört wie es in diesen Schreckens tagen zuging hier. Es wird natürlich viel übertrieben, aber immerhin gings an einigen Orten schrecklich zu, oft hörten wir stundenlang ununterbrochen Ka­nonendonner u. Gewehrfeuer. Unser Viertel ist verschont geblieben, am furcht­barsten gings im Presni-Stadttheil zu, auf der linken Seite vom zoologischen Garten, der letztere hat nicht gelitten, nur die Pforte hat Beschädigungen. Man sagt, nach Neujahr od. erst im März soll’s noch einmal anfangen, aber wenn sich die Revolutionäre rüsten, so rüsten sich auch die Regierungen u. Soldaten, so dass wieder nichts als un­nötiges Blutvergiessen herauskommt. Wir hatten nichts zu leiden unter der letz­ten Revolution, unsere Fabrik arbeitet fast 2 Wochen nicht, andere noch länger. Das Schwarzbrod kostet schon seit dem ersten Generalstreik 4 Kp. das W [Pfund] 2 W  7 Kp. u. es wird wohl nicht bald billiger werden. Weissbrod ist gleich theuer, nur das Fleisch ist theurer, habe letzthin 24 Kap. für Agusik bezahlt, das war aber auch das theuerste, u. dauerte nur einige Tage, die Prei­se sind jetzt noch nicht normal, aber doch nicht mehr so hoch, Filet 20-21 Kp. Gray 18-19. Schweine- u. Kalbfleisch je nach dem Stück 25-32, wie Sie sehen also gar nicht so schrecklich. In diesem letzten Streik war das Wasser nie abgestellt, während wir uns im vorhergehenden Streik, 2 od. 3 Tage ohne Was­sermann behelfen musste, wer konnte, hatte sich eben vorgesehen, man sprach schon einige Tage zum Voraus davon, wir hatten wenigstens nie Wassermangel.- Mit den Schulen gehts schlecht, im ver­gangenen Viertel gingen die Kinder wohl keine 2 ganzen Wochen zur Schule, u. bezahlt ists doch. Hoffentlich kommts jetzt doch bald besser, es ist zu traurig so, wenn die Schulen jetzt nicht beginnen können nach dem 6. Jan., so ginge ein ganzes Schuljahr verloren.-

Die Briefe

10 Jahre lang lebte und arbeitete Emil Speiser in Moskau, bevor er 1903 krankheitsbedingt in die Schweiz zurückkehren musste. 10 Jahre lang schrieb er an seine Eltern und Geschwister, berichtete aus dem Alltag in der Fremde, über das Fabrikleben und die russische Gesellschaft. Auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz und seinem Tod riss der Kontakt mit Moskau nicht ab. Witwe Mina Speiser erhielt weiterhin Briefe von ihren Freundinnen und Bekannten – bis zu den Novembertagen 1917.

Webstühle, Esskultur und Unruhen

Die Briefe im Staatsarchiv erzählen davon, wie es Zettelmeister Speiser in der Bandweberei Handschin & Wirz in Moskau erging; wie der Schweizer mit der russischen Kultur zurechtkam; was er und seine Bekannten von den zunehmenden Unruhen um 1900 miterlebten. Auszüge aus den Briefen werden hier im Blog anlässlich der Museumsnacht 2017, die im Staatsarchiv unter dem Motto „Moskau einfach?“ steht, in einer kleinen Serie veröffentlicht.