Staatsgewalt anno 1927

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Allgemein, Aus dem Lesesaal

Am 1. Dezember 1927 stand in der Basler Arbeiterzeitung unter dem Titel ‚Wir fragen an’ zu lesen:

Es wird uns geschrieben: Die Arbeiterschaft Basels hat den Falknerstrasse-Krawall, bei dem die Polizei ein so infame Rolle gespielt hat, noch sehr lebhaft in Erinnerung. Wie besessen schlugen damals die Hüter der Ordnung auf die wehrlosen Demonstranten und noch mehr auf die gaffenden Passanten ein, so dass ihrer dreizehn ins Spital verbracht werden mussten. Trotz den grössten Anstrengungen gelang es in der Folge nicht, den Polizeiinspektor Müller mit seinem rabiaten Leutnant, der für die öffentliche Ruhe geradezu eine Gefahr bedeutete, aus dem Amte zu entfernen. Ebenfalls in Erinnerung geblieben ist der empörende Zwischenfall im Bad. Bahnhof, wo Leutnant Benz den Grenzwächter Hürzeler grundlos mit Prügeln traktierte, was seine Versetzung in eine andere Abteilung zur Folge hatte.

Durch diese Ereignisse wurde die Bevölkerung wenigstens aufmerksam gemacht auf den Geist, den unser Polizeikorps beherrscht. Man verfolgte die Tätigkeit der Sicherheitsorgane etwas sorgfältiger als zuvor. Die Folge davon war nicht ein besseres Einvernehmen, sondern im Gegenteil eine starke Beunruhigung weitester Schichten. Man wurde gewahr, dass unsere Polizeiorgane bei ihrer Tätigkeit zwar fachlich wenig leisten, dafür aber überall eine Rücksichtslosigkeit und Brutalität ohnegleichen an den Tag legen, wenn es gilt, den Autoritätsgedanken durchzudrücken.

Dann kam die Rheinweg-Affäre, kurz nachher drang Kunde von mehreren Misshandlungen auf Polizeiwachen in die Öffentlichkeit. Auch der Staatsanwaltschaft war die Sache zu dumm geworden, die nun in allen einschlägigen Fällen mit Nachdruck eingriff. Die Rheinweg-Affäre bestätigte das Misstrauen der Bevölkerung. Sie hatte zwar die Verurteilung und Entlassung einiger Polizisten zur Folge, liess aber die Leitung des Polizeikorps ungeschoren. Und gerade das ist das Unerträgliche. Die Verhältnisse und der Geist der Mannschaft sind doch nur der Spiegel der Verhältnisse und des Geistes bei der Leitung, nur die logische Konsequenz des Systems, das vom Departementsvorsteher und vom Offizierskorps eingeführt worden ist.

Nun ist aber besonders bemerkenswert, dass die Leitung der Basler Polizei, Herr Niederhauser und Inspektor Müller sehr prononciert auf dem Boden der Sittlichkeit stehen. Wo es irgendwie geht, wird auf die Reinhaltung der Luft von unmoralischen Einflüssen gedrungen. So musste sich die Unionsbuchhandlung zweimal wegen den Büchern Mantegazzas vor Gericht verantworten, der Inhaber eines hiesigen Grosskinos wurde erst kürzlich wegen seiner Propaganda für den „Casanova“-Film vor dem Gericht verknurrt und eine bekannte ausländische Tänzerin musste sich an den Plakatsäulen mit einem Papierplätzchen „überkleben“ lassen. Auch passierte einem jungen Genossen kürzlich folgendes nettes Stücklein: Als er eines abends um 7 Uhr in seinem möblierten Zimmer in der Bergalingerstrasse mit einer Jugendgenossin, deren Familie er seit Jahren kennt, vor dem Besuch einer Versammlung zu Abend ass, klopfte es und ein uniformierter Polizist erklärte den Überraschten, es gehe nicht an, dass die Genossin länger im Zimmer bleibe, er habe den Auftrag vom Claraposten, dieselbe aus dem Hause zu begleiten. Man höre und staune: Wenn also zwei junge Leute miteinander um 7 Uhr zu Nacht essen, ist die öffentliche Sittlichkeit gefährdet und die Polizei schreitet gewaltsam ein. Nur ein kleines und unwichtiges Beispiel, das aber treffend zeigt, auf welche Art geschnüffelt wird.

Nicht entsittlichend ist es natürlich, wenn ein höherer Unteroffizier als besoffener Radaumacher auftritt. Die diesbezüglichen Feststellungen in der Presse sind unbeantwortet geblieben. Eine Ehrbeleidigungsklage ist deshalb nicht erfolgt, weil die Darstellung richtig war. Kaum ist dies vorbei, so zirkuliert nun seit längerer Zeit im untern Kleinbasel ein Gerücht, wonach ein weiterer hoher Polizeibeamter, der sogar den Rang eines Oberleutnants bekleiden soll, sich mit übelbeleumdeten Frauenspersonen sittliche Verfehlungen habe zuschulden kommen lassen, die bei gewöhnlichen Sterblichen jedenfalls das Einschreiten der hohen Obrigkeit zur Folge gehabt hätten.

Wir fragen das hochlöbliche Polizeidepartement an, ob an diesem Gerücht, das sich hartnäckig behauptet und dem wir kaum Glauben schenken können, etwas Wahres ist. Wenn ja, ob diese hochgestellte Persönlichkeit das gleiche disziplinarische Schicksal erreicht wie die untern Polizeibeamte, wenn sie sich eines gleich unwürdigen Verhaltens schuldig gemacht haben?

Dafür wird jedenfalls gesorgt werden, dass die ganze Angelegenheit unserer Polizei im Grossen Rat zur Sprache gebracht und endlich einmal gründlich genistet wird.

Regierungsrat Niederhauser ordnete sofort nach Erscheinen des Artikels in der Arbeiterzeitung eine disziplinarische Untersuchung gegen Oberleutnant Sydler an, für die er vom Strafgericht die Akten eines Kuppelei-Verfahrens verlangte. Polizeiinspektor Müller stellte mit allen an diesem Strafverfahren Beteiligten Einvernahmen durch und liess auch Oberleutnant Sydler zu Wort kommen. In einem Bericht an den Regierungsrat empfahl darauf Regierungsrat Niederhauser, die Sache an die Disziplinarkommission zu weisen, die Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen solle. Der Regierungsrat sah die Sache aber nicht so gravierend an und wies am 27. Dezember 1927 „die Angelegenheit an das Polizeidepartement zurück mit dem Auftrag, sie durch Erteilung eines Verweises zu erledigen“.

Mehr zur Basler Polizeigeschichte

Dieser Beitrag stammt von Robert Heuss, ehemaliger stellvertretender Polizeikommandant und späterer Staatsschreiber. Auf die Krawallgeschichte stiess er bei seinen Archivrecherchen für die 2016 erscheinende Publikation zur Basler Polizeigeschichte 1816-2016.