Ein Beitrag von Benedikt Meyer, Historiker, Autor, Kabarettist (www.benediktmeyer.ch)
Es war schon ein übler Lapsus. 2022 proklamierten SBB, BAV und VÖV ein «175 Jahre Eisenbahn in der Schweiz»-Jubiläum – und waren damit volle drei Jahre zu spät. Das Jubiläum bezog sich auf die 1847 eröffnete, legendäre «Spanisch-Brötli-Bahn». Das einzig Dumme war, dass diese gar nicht die erste Bahn im Land war. Denn als die Linie Zürich-Baden eröffnet wurde, stand in Basel schon seit drei Jahren ein erster Bahnhof, verkehrten seit drei Jahren Züge via Mulhouse nach Strassburg.
Die ersten Züge der Schweiz fuhren also nicht 1847 längs der Limmat, sondern 1844 westlich des Rheins. Basel-Strassburg war zudem eine der ersten internationalen Verbindungen der Welt, wobei der Schweizer Anteil allerdings überschaubar war. Nur etwas weniger als 2 Kilometer lagen auf Schweizer Boden: von St.-Louis-Grenze zum Bahnhof auf dem späteren Schällemätteli-Areal. Damit dieser Bahnhof «intra muros» zu liegen kam, wurde damals sogar eigens die Stadtmauer erweitert. (Zwei etwas technische Details: Der erste Bahnhof im St. Johann lag auf dem Gebiet des heutigen Biozentrums und ist nicht zu verwechseln mit jenem am Vogesenplatz. Und zweitens: Verschiedentlich liest man, dass ein Loch in die Stadtmauer gebrochen wurde, was nicht stimmt. Die Mauer wurde erweitert und mit einem speziellen Eisenbahntor versehen.)
Der erste Zug erreichte Basel am 15. Juni 1844 – also nächsten Samstag vor 180 Jahren. Damit begann das Bahnzeitalter in der Schweiz drei Jahre und einige Tage vor der Eröffnung der Spanisch-Brötli-Bahn. Nur ging das beim «Jubiläum» von 2022 dummerweise vergessen. Was natürlich nicht unbemerkt blieb. Zwar wurden noch eilig Formulierungen angepasst und Online-Postings korrigiert. Dass dies im Ergebnis aber nur mässig elegant daherkam, zeigt sich exemplarisch an einem schön gemachten SRF-Online-Stück. Dieses startet bahnhistorisch mit Kapitel 2, schiebt dann Kapitel 1 nach und macht anschliessend weiter mit Kapitel 3.
Soweit, so ungeschickt. Aber Malheurs haben immer auch ihr Gutes und genau hier wird es interessant! Dass die Schweizer Eisenbahngeschichte mit einer internationalen Linie anfing, ermöglicht es nämlich, den Blick auf genau diese internationale Dimension zu richten. Und die geht in der Eisenbahngeschichte leider zu oft vergessen.
Nur ein paar Beispiele:
- Die Bahn war eine englische Erfindung, die ersten Züge erreichten die Schweiz aus Frankreich und die Spanisch-Brötli-Bahn bestand aus Lokomotiven (und vermutlich auch Wagen) aus deutscher Produktion. Chefingenieur der Linie Zürich-Baden war ein Südtiroler namens Luigi «Alois» Negrelli.
- Das Kapital für den Ausbau der Schweizer Bahnen kam zu einem grossen Teil von internationalen Kapitalmärkten und damit massgeblich aus England und Frankreich. Erbauerin der Seetalbahn beispielsweise war die Londoner «Lake Valley of Switzerland Railway Company». Das Knowhow kam von ausländischen Experten sowie der ETH Zürich, die nach Vorbild französischer Hochschulen errichtet worden war.
- Der Gotthardtunnel, Jahrhundertbauwerk und Prunkstück der Schweizer Eisenbahngeschichte, wurde primär von italienischen Mineuren gebaut. Finanziert wurde der Bau durch private Investoren aus dem In- und Ausland sowie mit Geldern der öffentlichen Hand. Von diesen steuerte Italien rund die Hälfte bei, die Schweiz und Deutschland je etwa einen Viertel.
- Der 2016 eröffnete Gotthard-Basistunnel wurde massgeblich von Österreichern erbaut. Und wenn man sich anschaut, wer das Schweizer Bahnsystem heute Tag für Tag am Laufen hält, findet man Namen bzw. Menschen aus der ganzen Welt.
- Und zum Schluss eine Randnotiz: Sogar die Märklin-Modellbahn, die lange in keinem Schweizer Kinderzimmer fehlen durfte, war ein schwäbisches Produkt.
Die helvetische Eisenbahngeschichte ist eine wundervolle Erfolgsgeschichte. Aber sie ist keine ausschliessliche Nationalgeschichte. Sie ist eine einschliessliche Internationalgeschichte. Und das war sie von Anfang an, seit 1844 der erste Zug aus dem Elsass in die Schweiz fuhr.
Was ich mir persönlich wünschen würde, ist dass man diese internationale Dimension anerkennt. Und beim nächsten Jubiläum nicht nur auf die Eschers und Favres zurückblickt, sondern auch auf die Negrellis, Bujacks, Ginzingers, du Plooys, de Benedettos, Reichhardts und alle andern, die an dieser Erfolgsgeschichte mitgeschrieben haben. Mir jedenfalls wäre es ein diebisches Vergnügen, wenn die Verantwortlichen von SBB und Co die Chuzpe hätten, das 200-Jahr-Jubiläum nicht erst 2047 anzusetzen, sondern bereits 2044 – also schlappe 22 Jahre nach dem 175-Jahr-Jubiläum, dafür aber 200 Jahre nach der Eröffnung der tatsächlich ersten Bahnlinie der Schweiz. Der entscheidende Vorteil: Statt 2047 erneut erklären zu müssen, weshalb die erste Schweizer Bahnlinie schon wieder vergessen ging, könnten sie sich 2044 vor eine internationale Gästeschar hinstellen und mit fröhlichem Augenzwinkern, breiter Brust und noch breiterem, verschmitztem Grinsen verkünden: «Das geht halt nur im Schweizer ÖV: Wir schaffen sogar ein Vierteljahrhundert in gerade mal 22 Jahren!»
Benedikt Meyer ist Historiker und Erfinder des „Historischen Kabaretts“. Sein neues Programm „Plusquamperfekt“ feiert am 21. November Premiere im Theater im Teufelhof
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