Das metaphysische Gruseln der Geschichte

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Aus dem Lesesaal

Ein Beitrag von Benedikt Meyer, Historiker, Autor, Kabarettist (www.benediktmeyer.ch)

Steinentorstrasse 13, 1937. Staatsarchiv Basel-Stadt, NEG A 4113

Ich bin im Leimental aufgewachsen und wenn ich mit dem Tram in die Stadt fuhr, stieg ich am Theater aus. Das Tram fuhr danach weiter zum Bahnhof, ich selbst spazierte in die Innenstadt. Wartete ich zwei Stunden später aufs Tram heimwärts, dann tat ich das vor dem vergitterten Fenster des Waffengeschäfts Bürgin. In meiner Erinnerung war es meistens zu oder sah zumindest so aus und überhaupt schien es aus der Zeit gefallen. Spiessig, speckig, abgehalftert: Die Auslage war stets dieselbe, die Scheiben schmutzig und wenn ich mich recht erinnere, hing eine Kuckucksuhr an der Wand.

Kürzlich hat Bürgin sein Geschäft geschlossen und als ich das leere Schaufenster sah, kam mir plötzlich ein Gedanke. Nach kurzer Recherche überfiel mich das metaphysische Gruseln der Geschichte. Von genau jenem Büchsenmacher Bürgin hatte Maurice Bavaud seine Pistole!

Maurice Bavaud war Neuenburger, geboren 1916, sensibel, musisch: ein Träumer. Mit 19 trat er in ein französisches Priesterseminar ein, brach die Ausbildung aber nach drei Jahren ab. Im Sommer 1938 kehrte er heim, plünderte die Familienkasse und verschwand. In Basel kaufte er sich bei Bürgin die besagte Pistole – dann reiste er weiter nach München. Dort paradierten Hitlers Horden am 9. November 1938 durch die Stadt. Bavaud stand auf einer Tribüne, zückte seine Pistole und Bruchteile später lag Hitler erschossen in der Gosse. So jedenfalls war der Plan. Dummerweise ging Hitler auf der anderen Strassenseite und die vielen gereckten Hände verunmöglichten einen gezielten Schuss. Bavaud drückte nicht ab.

Wenig später war er pleite, wurde wegen Schwarzfahrens verhaftet, verstrickte sich in Widersprüche und landete in einem Kerker in Berlin. In Berlin weilte auch der Schweizer Botschafter Hans Frölicher. Dieser tat: nichts. Weder vor, noch nach dem Todesurteil gegen Bavaud.

Alles in allem habe ich Stunden um Stunden nichtsahnend vor Bürgins Geschäft verbracht. Als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener. Auf einer abstrakten Ebene weiss ich, dass sich die Weltgeschichte nicht irgendwo abspielt, sondern an konkreten Orten. Orten, die’s heute noch gibt. Und ja, der Bürgin von heute ist wohl Sohn oder Enkel des Bürgins von damals und das Geschäft stand 1938 noch um ein paar Dutzend Meter versetzt. Trotzdem kriege ich immer noch Gänsehaut: Die Büchsenmacherei, vor der ich immer aufs Tram gewartet habe, hat Bavaud die Waffe verkauft, die beinahe die Welt aus der Bahn – oder besser gesagt: wieder in die Bahn hinen geworfen hätte.

Maurice Bavaud starb am 14. Mai 1941 unter der Guillotine. Sein versuchter Tyrannenmord blieb ohne Folgen. Das heisst: fast. Vermutlich als Reaktion auf Bavauds Tat verbot Hitler ein Theaterstück, das er eigentlich stets gemocht hatte: Schillers „Wilhelm Tell“.

Benedikt Meyer ist Historiker und Erfinder des „Historischen Kabaretts“. Sein neues Programm „Plusquamperfekt“ feiert am 21. November Premiere im Theater im Teufelhof und handelt von sehr viel erfreulicherem als dem Zweiten Weltkrieg.

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