Eine Erzählung von Helena Bühler und Lara Flückiger, entstanden 2018 im interdisziplinären Projekt „Krieg und Krise in Basel“ der Klasse 2MS (Geschichte und Deutsch) im Gymnasium Muttenz. Als Ausgangsmaterial und Inspiration dienten Archivquellen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt.
Er spürte nur den leichten Wind des vorbeifliegenden Pflastersteins. Die Meute tobte. Seinem Befehl, umzukehren und den Streik zu beenden, wollte niemand Folge leisten. Im Gegenteil, die Masse wurde nur noch wilder und unaufhaltbarer. Doch auch die Kommandos, die er seiner Truppe zubrüllte, gingen im Chaos verloren. Um die Lage in den Griff zu bekommen, entschied er sich Warnschüsse loszufeuern. Warnschüsse, welche jedoch erst beim abgemachten Signalpfiff abgefeuert werden sollten. Der Ausruf «Zum Schuss fertig, Feuer!» sollte die Leute nur abschrecken. Eine genaue Kommunikation war jedoch in diesem Tumult unmöglich, Missverständnisse waren somit unvermeidbar. So schossen die ersten Soldaten, obwohl der Signalpfiff noch nicht ertönt war. Sie konzentrierten sich, niemanden zu treffen und feuerten die Kugeln in den grau verhangenen Himmel. Die Streikenden warfen sich zu Boden und hielten schützend die Hände über ihre Köpfe.
Leutnant Büchler drehte sich panisch im Kreis und suchte nach den Schützen. Einige seiner Soldaten hatten die Schüsse abgefeuert, weitere Schüsse folgten. Er blieb einen Moment stehen, versuchte ruhig zu atmen und rieb sich den Schweiss aus den brennenden Augen. Die Lage verschlimmerte sich mit dem Geschrei und Getobe der Menge stetig. Für Büchler stand alles einen Moment still. Die Bewegungen verliefen in Zeitlupe, Schreie waren nur noch dumpfe Geräusche aus der Ferne. Wenn er sich nicht bald zusammenriss, verlor er nicht nur komplett die Kontrolle über das Geschehen, sondern auch über sich selber. Er schloss seine Augen und atmete zehnmal tief ein und wieder aus. Als er sie öffnete, waren seine Gedanken wieder klar. Er besann sich seiner Befehlsfunktion und schrie seinen Leuten zu, sie sollen die Provokationen der Streikenden ignorieren und sich vom Ort zurückziehen. Büchler selber stieg auf die Ladefläche des Militärfahrzeugs und gab das Zeichen zur Abfahrt. Vielleicht könnte man mit diesem Rückzug die Lage etwas entschärfen. Doch die Demonstranten hatten andere Pläne. Ein erneuter Steinhagel prasselte den Soldaten entgegen, eine Weiterfahrt war unmöglich. Während seine Männer versuchten einen Weg durch die Masse zu bahnen, galt Büchlers Aufmerksamkeit etwas ganz anderem. Wurden da hinten nicht etwa Schusswaffen manipuliert? Er musste sich zuerst sicher sein, ob wirklich ein Angriff geplant war. Doch mit einem Mal packte ihn die bekannte Panik. Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass auf seine Männer geschossen werden konnte. Plötzlich nahm er in seinem Augenwinkel eine Bewegung wahr und aus reiner Hektik feuerte er einen Schreckschuss in die Menge ab. Einen Schreckschuss, der einer Frau das Leben kostete.
“Hilfe, mir bruche e Sanitäter, Schnäll!“, rief jemand, der neben der verletzten Frau kniete, “René lueg wäg, das muesch nit gseh!“ René war wohl der 7-jährige Sohn der Frau. Er stand starr und blass rund zwei Meter vor seiner toten Mutter. Passanten eilten zur Hand, doch jede Hilfe kam zu spät für eine Frau, welche bloss ihrem Sohn in die Menge nachgerannt war. Büchler, ebenfalls starr vor Schreck, stand noch mit geladener Waffe auf dem Fahrzeug. Er musste sofort weg von hier. Hatte er gerade eine unschuldige Frau ermordet? Nein, sicher nicht. Er hatte nur getan, was nötig war, oder? Die Frau war bestimmt ein Ablenkungsmanöver gewesen, damit der Schütze hinter der Tür unbemerkt hervortreten konnte. Trotz seinen Unsicherheiten musste er nun seine Führungsrolle wieder einnehmen und von hier verschwinden. “Abfahrt, los jetzt, wäg vo do!“
Während der Heimfahrt herrschte Totenstille unter den Soldaten. Niemand vermochte zu verstehen, was gerade passiert war. Beim Mittagessen sah die Welt schon wieder ganz anders aus. Der Magen knurrte und Büchler freute sich auf seine verdiente Mahlzeit. Generell herrschte eine angeheiterte Stimmung, die vergangenen Ereignisse schienen vergessen. Seine Enttäuschung konnte er jedoch nicht verbergen, als Fleischextrakt serviert wurden. Die bräunliche, zähe Masse tropfte bei jedem Bissen in langen Fäden von der Gabel. Hatten sie nicht etwas Besseres verdient? Vor allem er, der den ganzen Morgen ein Kommando nach dem anderen erteilt hatte. Er hatte die ganze Situation unter Kontrolle gehabt und war schliesslich auch dafür verantwortlich, dass es keine weiteren Ausschreitungen gegeben hatte. Zugegeben, den Zwischenfall mit der armen Frau Nyffeler hätte er vielleicht verhindern können, aber Kollateralschäden gab es halt. Was hatte sie dort überhaupt gemacht? Eine Frau samt Kind hatte an solch einem Ort nichts verloren. Wie dem auch sei, es galt sich jetzt zu konzentrieren. Der Einsatz am Nachmittag würde nicht weniger herausfordernd sein.
„Parat mache zur Abfahrt! In 5 Minute goht’s wieder los“, rief Büchler seinen Männern zu. Sobald alle wieder im Auto waren, verging die ausgelassene Stimmung schlagartig. Die Anspannung und Nervosität waren deutlich zu spüren und wurden von den fernen Schreien der Demonstranten nur noch verstärkt. Je näher die Militärwagen dem Stadtzentrum kamen, desto deutlicher wurden die wütenden Rufe. Mit der Zeit wurden Wörter wie „Mörder“ oder „Unmenschen“ klar verständlich, auch für Büchler.
Im Epizentrum der Demonstration angekommen wurde ihnen die Ernsthaftigkeit der Lage erst richtig bewusst. Am Ort, wo Frau Nyffeler gelegen hatte, hatten sich Dutzende Streikender versammelt. Allesamt hielten sie Plakate mit Aufschriften wie „Schweizer Militär tötet eigene Landsleute“ in die Höhe und starrten den Soldaten hasserfüllt entgegen. Unbehagen breitete sich unter den Männern aus und Büchler spürte den kalten Schweiss seinen Rücken hinunterlaufen. Er hätte nie gedacht, dass er einen solchen Aufruhr auslösen würde. Es war nur ein Schuss gewesen, der nicht mit der Absicht abgefeuert worden war, jemanden zu töten. Wussten die Leute, wer der Schütze gewesen war? Bestimmt nicht, das war unmöglich. Doch diese Frage spielte keine Rolle mehr, denn die wuterfüllten Gesichter der Demonstranten rückten mit jedem Atemzug näher an das Fahrzeug und machten ein Aussteigen unmöglich. Sie begannen an den Eisenstangen der Seitenfenster zu rütteln. „Wär het gschosse? Du Saucheib, hütt Znacht gosch denn wieder hei zu dinere Drottwaramsle. Dört packsch di io denn au us, also, zeig di!“, rief einer der Streikenden und trat hervor. Die Meute bekräftigte seine Ansage mit tobendem Gebrüll und es folgten weitere Beschimpfungen. Die Situation auf dem Auto wurde immer ungemütlicher für Büchler, denn alle seine Männer richteten ihre Blicke auf ihn und warteten auf seinen Befehl. „Waffe lade!“, brüllte Büchler mit aller Kraft. Dieser Satz reichte schon, um die Streikenden zu verunsichern und liess sie einige Schritte zurückweichen. „Parat? Schuss!“, und die Soldaten feuerten die Warnschüsse ab. Die Demonstranten sprangen auseinander und es bildeten sich Lücken, wo vorher noch eine dichte Menschenmasse gewesen war. Diese Chance nutzten die Soldaten, um vom Fahrzeug herunterzuspringen und sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Auf diese Weise gelang es ihnen, die Ordnung wiederherzustellen. Was aber niemand bemerkte: Büchler stand noch immer starr auf der Ladefläche des Fahrzeugs. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht verschwunden und er zitterte am ganzen Körper. Plötzlich sprang ein Streikender auf den Wagen, spuckte Büchler vor die Füsse und begann ihn heftig zu beschimpfen: „Mir wüsse, dass du gschosse hesch. Du bisch schuld und hesch nütt me unter Kontrolle, nid emol dini eigene Männer. Mir wärde für Grächtigkeit sorge und die foht jetzt ah.“ Mit diesen Worten warf er sich auf Büchler und begann auf ihn einzuprügeln.
Als er aufwachte, spürte er eine weiche Hand über seinen Kopf streicheln. Er öffnete seine Augen und blickte in das besorgte Gesicht seiner Frau. Was war mit ihm geschehen? Er versuchte sich aufzurichten, wurde jedoch vom stechenden Schmerz in seiner Brust aufgehalten. Er biss die Zähne zusammen und stöhnte leise auf: „Was isch passiert?“ Auf diesen Anstoss schien seine Frau nur gewartet zu haben, denn die Wörter sprudelten augenblicklich aus ihr heraus: „Schatz, du hättsch chönne stärbe. Ich bang scho sitere Wuche näbe dim Bett und wart uf de Moment wo du endlich ufwachsch. Die letschde siibe Täg sin die reinsti Höll gsi für mi. Ei Drohbrief nochem andere isch iitroffe und beschumpfe worde bini au. D Lütt sage, du sigsch eh Mörder. Aber ich glaub das nid, ich weiss, dass es nid eso isch, wie sie’s darstelle. Das hän mr dini Männer au bestätigt. Es paar hän mi bsuecht und mir die wohri Gschicht verzellt. Du bisch e Held! Du hesch nur gmacht, was nötig gsi isch. Du muesch di au nit schuldig fühle und uf kei Fall Angst ha. Du bisch als unschuldig erklärt worde. Ich versprich dir, es kunnt alles guet.“
Doch gar nichts kam gut. Auch noch Wochen nach dem Streik erhielt Büchler regelmässig Drohbriefe und es kam sogar vor, dass Randalierende vor seinem Haus Krawall machten. Obwohl ihm seine Frau und Soldaten immer wieder vom Gegenteil überzeugen wollten, hatte er schreckliche Schuldgefühle. Er war für den Tod einer jungen Mutter verantwortlich und alle wussten es. Unschuldige Leute hatten sich doch nur für ihre Rechte eingesetzt. An ihrer Stelle hätte er wohl das Gleiche getan. Und nun waren sie allesamt wütend auf ihn und das zu Recht. Hätte er die Situation besser kontrolliert, hätte man viele Ausschreitungen verhindern können. Er war tatsächlich an allem schuld. Mit diesem Druck in der Brust und der Last auf seinen Schultern konnte er unmöglich weiterleben. Es musste doch etwas geben, das ihm die Situation etwas erleichtern würde.
Vier Tage später stand Büchler in der unteren Rebgasse und suchte vergeblich die Nummer 20. Er hatte schon beinahe aufgegeben, als ihm plötzlich ein Ball vor die Füsse rollte. Ein kleiner Junge stand vor ihm, nahm den Ball und rannte verlegen davon. Büchler schaute dem Jungen nach, bis er in ein verwahrlostes Haus am Ende der Gasse verschwand. War das nicht René gewesen? Er ging ein Stück in die dunkle Seitengasse hinein, bis er vor dem kleinen Häuschen stand. Da war sie, die Nummer 20. Der Name neben der Türklingel war kaum zu erkennen, doch das N und Y reichten ihm aus um sicher zu sein, dass er vor Frau Nyffelers Zuhause stand. Er zog noch einmal scharf die Luft ein, schloss die Augen und klopfte.
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