Die noch in Lörrach verbliebenen Mitglieder der dortigen jüdischen Gemeinde wurden am 22. Oktober 1940 ins unbesetzte Frankreich deportiert. Sie teilten das Schicksal der Juden aus ganz Baden und der Saarpfalz. Unter ihnen war Regina Schärf. Ihre Tochter Fanny und deren Ehemann Saly Schächter hatten nach ihrer durch die in Folge des Kriegsausbruchs gescheiterte Flucht nach England in Basel Zuflucht gefunden. Ihr Sohn Hermann hatte sein Medizinstudium in Basel abgeschlossen und fand ein Auskommen als Assistenzarzt.
Am 14. April 1940 richtete Fanny Schächter-Schärf eine dringliche Bitte an die „Kantonale Fremdenpolizei z.H. des Herrn Merz“: „Meine verwitwete Mutter ist bereits über 60 Jahre und wohnt schon ca. 30 Jahre in Lörrach. Israelitischer Konfession.“ Angesichts der in Basel bekannten Umstände der NS-Verfolgung von Juden würde es für sie viel bedeuten, ihre Mutter bei sich wissen. Der Schweiz zur Last fallen würde die Seniorin auf keinen Fall. Eine weitere Tochter, wohnhaft in Amerika würde für ihren Unterhalt aufkommen. Zudem sei ihr lediger Bruder als in Basel tätiger Assistenzarzt in der Lage, zum Unterhalt seiner Mutter beizusteuern. „Ferner wären namhafte Schweizer Bürger bereit jede Garantie für meine Mutter zu übernehmen.“
Die Ermittlungen der Kantonspolizei zu den Vermögensverhältnissen vom Fanny Schächter-Schärf und ihrem Ehemann ergaben, dass das Ehepaar selbst vermögenslos und auf Unterstützungsgelder der Israelitischen Flüchtlingshilfe angewiesen sei. Was nun die Wiederausreise von Regina Schärf betraf, lagen die Dinge aus Sicht der Fremdenpolizei nicht einmal so schlecht. Sie stünde nach Auskunft der Tochter „auf rumänischer Quote, habe die No. 77 erhalten & es könnte aber immer noch vielleicht 1 oder 1 1/2 Jahre vergehen, bis ihr das Visum erteilt werde.“ Entsprechende Belege würden der Fremdenpolizei in Kürze unterbreitet. Die Stellungnahme der Kantonalen Fremdenpolizei, datiert vom 9. Mai 1940, zum Gesuch von Fanny Schächter-Schärf fiel negativ aus: „Wir beantragen das Einreisegesuch abzuweisen. Begründung: Die Weiterreise ist nicht gesichert. Ungenügende Existenzverhältnisse. Die Zureise ist zur Zeit nicht erwünscht.“
Fanny Schärf ließ auch nach der Deportation ihrer Mutter nicht locker. Zwischenzeitlich hatte Ihre Mutter selbst die Initiative ergriffen und in einem Schreiben an das Schweizerische Konsulat in Toulouse vom 12. Mai 1941die Erlaubnis zur Einreise in die Schweiz beantragt. Dort beschied man ihr, dass zunächst „die Einwilligung zur Einreise in die Schweiz von der Kantonalen Fremdenpolizei in Basel vorliegen muss.“ Um eben die Einreisebewilligung für ihre Mutter ersuchte nun Fanny Schächter die Kantonale Fremdenpolizei förmlich.
Man schreibt inzwischen den Juni 1941. Zuvor hatte das schweizerische Konsulat in Toulouse Regina Schärf auf eine weitere Komplikation hingewiesen: „Da es nun aber ganz unsicher ist, wann Sie nach New York reisen können, müssten Sie schon von den französischen Behörden die Zusicherung erhalten, wieder nach Frankreich zurückkehren zu dürfen, nachdem die Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz angelaufen ist.“ Nun wurde auch die Israelitische Fürsorge Basel aktiv und machte gegenüber der Kantonspolizei humanitäre Gründe geltend: “Wir würden es sehr begrüßen, wenn der alten Frau, deren Gesundheitszustand durch das harte Lagerleben sehr gelitten hat, die Möglichkeit geboten würde, in die Schweiz zu kommen“, um hinzuzufügen, dass die Kosten für den Unterhalt von Regina Schärf und für ihre Ausreise in die USA gedeckt seien.
Auf den Plan trat nun auch Dr. Anton Christ, Leiter des Sanatoriums Erzensberg in Langenbruck im Kanton Basel Land. Hier war Regina Schärfs Sohn Hermann als Assistenzarzt in Stellung. Christ stellte der Fremdenpolizei eine Bescheinigung aus, dass er bereit sei, die Kosten für den Aufenthalt von Regina Schärf in Basel zu übernehmen. Nun zeigte sich zumindest die Basler Fremdenpolizei humanitären Argumenten gegenüber zugänglich und teilte dies der Eidgenössischen Fremdenpolizei in einem Schreiben vom 9. Juni 1941 mit. Ein Präzedenzfall, der weitere ähnlich gelagerte Fälle nach sich ziehen könne, sei nicht gegeben, um allerdings einzuschränken: „Es wurde uns versichert, dass Frau Schächter die einzige Emigrantin in der Schweiz sei, die ihre Mutter im Camp de Gurs habe. Ob dies den Tatsachen entspricht, können wir allerdings nicht nachprüfen.“
Eine entsprechende Aufenthaltsbewillig für Regina Schärf sicherte die Kantonspolizei am 9. Juni 1941 zu. Nur wurde diese am 19. Juni 1941 von der Eidgenössischen Fremdenpolizei mit der Begründung kassiert, die Weiterreise sei nicht gesichert. Zehn Monate später vollzog die Eidgenössische Fremdenpolizei im April 1942 in einem Schreiben an Anton Christ eine Kehrtwendung: „Nachdem Herr Dr. Hermann Schärf, der Sohn der Obengenannten, auf unsere Anfrage hin erklärt hat, die von ihm offerierte Kaution von Fr. 25 000,- habe der Bestreitung des Lebensunterhaltes von Frau Schärf zu dienen und bleibe so lange stehen, bis dieselbe die Schweiz verlassen oder hier ihren Lebensabend beschlossen habe, sind wir prinzipiell bereit, die nachgesuchte Einreisebewilligung zu erteilen.“ Jetzt gelte es nur noch für Dr. Christ, Chef von Hermann Schärf und der tatsächliche Garant, „den genannten Betrag – es kann sich auch um Wertpapiere handeln – bei einem Bankinstitut Ihrer Wahl zu hinterlegen …“ Nun stand der Ausstellung einer Einreisebewilligung durch das Schweizerische Konsulat in Toulouse nichts mehr im Wege. Regina Schärfs Anmeldeformular für ihre Wohnsitznahme in Basel ist datiert vom 4. August 1942.
Zwischen dem 6. und dem 8. August 1942 wurden die in Gurs internierten Juden über das Sammellager Drancy nach Auschwitz deportiert.
Es bleibt anzumerken, dass Regina Schärf, ihre Tochter und ihr Sohn die von Anton Christ hinterlegte Garantiesumme zu keinem Zeitpunkt in Anspruch genommen haben.
GEFUNDEN IM STAATSARCHIV
Ulrich Tromm, einstiger Geschichts- und Englischlehrer, forscht im Staatsarchiv über die regionale Geschichte des Nationalsozialismus. Von ihm stammt der oben stehende Beitrag.
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