«Ich wollte nur arbeiten»

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Allgemein, Blogserie, Magnet Basel

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Foto: Daria Kolacka © teamstratenwerth

An einem Dienstagvormittag, im Pavillon der Ausstellung «Magnet Basel» im Hof des Staatsarchivs. Daria Kolacka setzt sich an den Tisch mit der Fallakte Anna Kuhn und beginnt zu erzählen. Sie ist Dozentin, Videomacherin, Fotografin und Sprachlehrerin, ursprünglich aus Polen. Und sie sagt: «Diese Ausstellung ist sehr aktuell. Diese Geschichten sind auch unsere Geschichten. Es ist wichtig, darüber zu sprechen.»

Ein einfacher Traum

«Als ich begann, die Fremdenpolizeiakte von Anna Kuhn zu lesen, wurde mir klar: Da kann ich nicht nüchtern bleiben. Ich musste immer denken, wie war es denn bei mir? Da funktionierte es nicht mit meiner üblichen kritischen Distanz, die ich zum Beispiel beim Zeitungslesen habe. Die Ausstellung hat mich einfach platt gemacht. Auch wenn der Lebenslauf von Anna Kuhn in vielem anders ist als meiner, in einem Punkt sind wir gleich: Beide wollten wir einfach nur arbeiten, und es wurde uns aus irgendwelchen Gründen verweigert.»

Willkommen

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Mit seinen Illustrationen, hier in Ausschnitten gezeigt, hat Simon Beuret die Migrationsgeschichte von Anna Kuhn visualisiert.

«Anna Kuhn war ein junges Mädchen, anfangs 20, als sie aus Freiburg im Breisgau nach Basel kam, um als Dienstmädchen zu arbeiten. Dann wurde sie aber in die Aufgaben im Laden ihres Arbeitgebers eingebunden, und da begannen ihre Probleme. Dabei war ihr Traum ganz einfach: hier zu arbeiten und später mal einen eigenen Laden, die Filiale eines Eierladens, zu führen. Also eigentlich etwas sehr Normales, und ich verstehe nicht, warum es ihr nicht ermöglicht wurde. Warum musste da ein Detektiv beauftragt werden, um herauszufinden, was sie falsch machte? Sie wollte eigentlich nur arbeiten.»

«Die Geschichte von Anna Kuhn ist ein Stück weit meine Geschichte. Ich kam 2001 nach Basel, mit einem eidgenössischen Stipendium für meine in Polen geschriebene Dissertation in Kunstgeschichte. Ich kam für ein Jahr, so war es gedacht. Nach diesem Jahr war die Dissertation noch nicht fertig, ich blieb, arbeitete an der Universität, unterrichtete dann an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, arbeitete für eine Galerie.»

Schwanger und arbeitslos

«2006, nachdem die Dissertation längst fertig war, lernte ich während einer Bibliotheksreise nach Paris den künftigen Vater meiner Kinder kennen. Als ich schwanger wurde, fingen meine Probleme in der Schweiz an. Ich arbeitete damals als Vertretung in einer Basler Bibliothek, und trotz des Lobs für die geleistete Arbeit wurde ich nicht weiterhin angestellt. Beim Vorstellungsgespräch kamen Fragen: ‹Wie stellen Sie sich das bloss vor, mit einem Kind zu arbeiten?›»

«Da mein Partner, der wegen seiner Arbeit weitere neun Jahre in Paris wohnte, nicht imstande war, mich finanziell zu unterstützen, landete ich bei der Sozialhilfe. Die Zeit war schwierig: Er lebte in einem 10 m2 grossen Zimmer in einer Pariser WG und hatte manchmal nicht einmal Geld, um fürs Wochenende Tickets nach Basel zu kaufen. Ich war schwanger und arbeitslos. Schlechte Aussichten für ein glückliches Familienleben.»

Erleichtert

«Während meiner Schwangerschaft suchte ich nach jeglicher ‹zumutbaren› (wie das von den Behörden bezeichnet wird) Arbeit. Und darüber hinaus. Parallel habe ich mich als Dozentin und Kellnerin, als Deutschlehrerin und Garderobiere, als Fotografin und Restaurantaushilfe beworben. Ich probierte die ganze Palette. Und konnte nicht mehr schlafen. Es kamen nur Absagen. Wegen Überqualifikation, wegen mangelnder Erfahrung oder – wie an den Basler Sprachschulen – weil ich keine deutsche Muttersprachlerin bin. Mein Sprachdiplom und meine langjährige Erfahrung als Dozentin spielten hier keine Rolle. Ich wurde gar nicht zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Schliesslich bekam ich eine Stelle als Deutschlehrerin in Zürich. Hochschwanger pendelte ich am frühen Morgen drei Mal in der Woche. Leider hat es finanziell immer noch nicht gereicht, um mich von der Sozialhilfe abzulösen.»

«Als mein erster Sohn zur Welt kam, konnte ich natürlich nicht mehr in Zürich arbeiten. Ich hörte aber nicht auf, nach Arbeit zu suchen. Ein Jahr später durfte ich Kunstgeschichte an der Universität Basel unterrichten. Was für eine Erleichterung, die Zeit in die Vorbereitung des Seminars zu investieren und sie nicht nur den aussichtslosen Bewerbungen und Rechtfertigungen zu widmen! Was für ein Glück, sich nicht so schrecklich nutzlos zu fühlen! Ich stürzte mich in die intellektuelle Arbeit. Auch wenn das Pensum minimal war, bereitete ich den Unterricht fleissig jede Nacht vor, während das Kind schlief. Meine Arbeitszeit hat sich auf 20–24 Uhr nachts verschoben. Da konnte ich mich gut konzentrieren, lesen, Präsentationen vorbereiten, studentische Arbeiten korrigieren. Die Aussenstehenden sahen nur 90 Minuten Durchführung des Seminars. Einmal in der Woche. Fauler Sack!»

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Illustration Simon Beuret

Abgewiesen

«Seit Beginn meines Aufenthalts in Basel hatte ich für polnische Kulturzeitschriften Artikel über die Schweizer Kunst verfasst. Nun vermittelte ich Kunst aus Osteuropa den Basler Studenten. Sie waren interessiert. Der Vertrag wurde mehrfach verlängert. Mittlerweile, 2009, gebar ich meinen zweiten Sohn. Zusätzlich zur Arbeit an der Universität unterrichtete ich freischaffend Deutsch und Kunstgeschichte für Künstler. Alles zu wenig, um mich von der Sozialhilfe ganz unabhängig zu machen. Und da kam die Nachricht: Die Aufenthaltsbewilligung wird nicht verlängert. Ich sollte innerhalb von drei Monaten eine feste Stelle finden. Oder die Schweiz mit den beiden hier geborenen Kindern verlassen. Wo sollten wir hin? Nach Polen konnte ich nicht zurück, da hatte ich nichts mehr, und mein Partner, der immer noch in Paris war, hätte uns wegen der Distanz kaum mehr besuchen können. Ich habe aufgehört zu schlafen. Ich erkundigte mich bei den Behörden, was ich tun sollte, um die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Die Antwort war knapp: ‹Arbeiten gehen!›. Ich arbeitete ja! Und zwar als Dozentin an der Basler Universität! Ich schluckte. ‹Wie viel Prozent muss ich denn arbeiten?› ‹100›. ‹Und spielt es eine Rolle, dass ich zwei Kinder allein erziehe?›. ‹Dann 50›. Ich hatte das Gefühl, ich bin der Willkür der Behörden völlig ausgeliefert. Daran erinnere ich mich sofort wieder, wenn ich die Migrationsgeschichten in der Ausstellung lese.»

Gedemütigt

«Ich suchte nicht mehr nach Arbeit. Ich bettelte um Arbeit. Ich war überall. Durch einen glücklichen Zufall oder durch Mitleid bekam ich eine befristete Stelle für ein Jahr. Endlich war ich unabhängig. Das Glück dauerte vier Jahre lang. Dann gab es eine sogenannte finanzielle Kürzung und die Stelle wurde gestrichen.»

«Als ich erfuhr, dass mein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird, war meine erste Reaktion: die Einbürgerung beantragen, meinen Kindern das Recht geben, hier normal zu leben. Ich stellte das Gesuch. Trotz intensiver Arbeitssuche musste ich mich dann doch beim Arbeitsamt anmelden. Alle Formulare korrekt ausgefüllt und rechtzeitig abgegeben. Und dann eine böse Überraschung: Das Arbeitslosengeld kommt nicht an. Ich fragte nach. Mein Geld wurde an eine falsche Adresse geschickt. An die Sozialhilfe, bei der ich ja seit mehreren Jahren nicht mehr war. Der Fehler wurde zugegeben. ‹Und wann wird mir das Geld überwiesen?› ‹Man werde mich informieren›. Nach ein paar Tagen frage ich nach. Ich solle nicht aufdringlich sein, hiess es. Man habe mir ja doch gesagt, ich würde informiert. Der Ton des Beamten war sehr angriffig. Die letzte Lohnauszahlung war vor anderthalb Monaten gewesen. In ein paar Tagen würde ich kein Geld mehr haben, um Essen zu kaufen. Warum musste es so sein? Warum musste ich wieder ums Geld bitten? Das Arbeitslosengeld hatte ich ja selbst verdient! Ich hätte mich in dieser sowieso nicht einfachen Situation der Arbeitslosigkeit so gerne nicht so allein gelassen und gedemütigt gefühlt.»

Bevormundet

«Während der ganzen Zeit meiner Arbeitslosigkeit arbeitete ich. Als Teil von bezahlten und unbezahlten Projekten, in der Hoffnung, dass mein Engagement in einer festen Anstellung resultiere. Aber auch, um als Mensch nicht auseinanderzufallen, und um meine Ausbildung und Interessen zu pflegen. Ich machte Fotos, Videos, arbeitete an einer Sprachschule und in einem Tanzstudio. Als ich – noch während der Probezeit – merkte, dass für mich Buchhaltung doch viel zu weit von dem ‹Zumutbaren› ist, kündigte ich die 20%-Stelle. In den Augen der Beamten ein grosser Fehler. Ich durfte nicht selbst kündigen. Diese Entscheidung konnte mit dem Entzug der restlichen Taggelder bestraft werden. ‹Mein Fall müsse geprüft werden›, hiess es. Ich schlief wieder nicht mehr. Mindestens war jetzt die Einstellung der zuständigen Person menschlich: ‹Die Vorschriften kann ich nicht ändern, ich wünsche Ihnen aber alles Gute.› In solchen Momenten hilft manchmal einfach ein unterstützender Satz.»

«Bei der Lektüre der Akte von Anna Kuhn kam mir diese Situation wieder in den Sinn. Warum durfte sie nicht arbeiten, was sie wollte? Warum war sie auf diese Weise fremdbestimmt?»

Eingebürgert

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Illustration Simon Beuret

 «Die Geschichte von Anna Kuhn gehört in der Ausstellung zu den ‹Erfolgsgeschichten›. Meine Geschichte eigentlich auch. Mittlerweile bin ich eingebürgert, bin Schweizerin – und Polin. Meine Kinder haben auch beide Nationalitäten und sprechen beide Sprachen.»

«Gefragt, ob ich mich als Schweizerin oder Polin fühle, antworte ich: ‹Ich fühle mich als ewige Migrantin.› Stolz ist es nicht, was ich empfinde, wenn ich mich als Migrantin bezeichne. Da steckt auch eine Traurigkeit drin. Ständig unterwegs zu sein macht müde… Es ist eine Tatsache, mit der ich mich konfrontiere.»

«Ich erlebte viele Ängste, extreme Situationen, körperlich und emotional, die ich in grossem Masse dank Hilfe meiner Schweizer Freunde durchstehen konnte. Ich lebte in zwei Welten: in der Behördenwelt, die mich erschrak, weil ich mich immer rechtfertigen musste, und in der ich permanent gestresst war, etwas falsch zu machen; und in der Welt meiner Freunde, die mich immer ermunterten, in schwierigsten Momenten Essen kochten und für mich immer da waren. Die beiden Welten muss ich auseinanderhalten, wenn ich an die Schweiz denke.»

Ein Traum geht in Erfüllung

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Illustration Simon Beuret

«Als es mir vor einem Jahr klar wurde, dass ich nur auf kleine, temporäre und nicht gut bezahlte Anstellungen angewiesen bin und – sobald das Arbeitslosengeld zu Ende geht – gezwungen bin, mich wieder an die Sozialhilfe zu wenden, habe ich den Mut gefasst und mich selbständig im Haupterwerb gemacht. Ich gebe nun Deutschkurse für Expats. Natürlich begleitet mich die Angst – was ist, wenn ich krank werde, fängt dann alles wieder von vorne an?»

«Trotzdem habe ich mich als Mensch, als Person in dieser Arbeit wiedergefunden. Ich habe mich entschieden, alle meinen bisherigen Erfahrungen in die neue Arbeit einzubringen: Ich habe Deutschkurse konzipiert, für die ich Videos aus Basel produziere. So kann ich nicht nur den alltäglichen Spracherwerb anbieten, sondern auch – als Kunsthistorikerin mit journalistischer Erfahrung – das kulturelle Basel zeigen. Ich trage aber auch meine Geschichte einer Migrantin in mir, und das Beste, was ich tun kann, ist diese Erfahrung positiv umgewandelt weiterzugeben. Es ist eine grosse Freude, wenn zum Beispiel junge Mütter mit ihren Babys zu mir kommen und ich ihnen sagen kann, wo sie Beratung erhalten. Ich bin glücklich und stolz darauf, dass ich meine Erfahrung anderen Menschen weitergeben kann.»

Schlussüberlegung

«Die Ausstellung ‹Magnet Basel› ist äusserst aktuell. Hier treffen Menschengeschichten aus hundert Jahren auf das heutige Schicksal von Flüchtlingen. Die Letzteren werden mit Unrecht oft als minderwertig wahrgenommen. Nicht als Menschen mit bestimmten Fähigkeiten, sondern nur durch ihren Status als Migranten. Ich fragte mich mitten in der Ausstellung: Was steht denn in meiner Akte? Dass ich Filme über Basler Kulturpersönlichkeiten drehte, Kunstvermittlerin war und Artikel über die hiesige Kunst schrieb? Oder nur, dass ich von staatlichem Geld lebte? Gelesen habe ich meine eigene Akte nicht, noch nicht, ich bin noch nicht bereit dazu.»

«Solange ich Geld hatte und alleine war, galt ich nicht als Problem. Erst als Schwangere und Alleinerziehende wurde ich zum ‹Fall›. Während zehn Jahren habe ich ca. 500 Bewerbungen – schriftlich und mündlich – eingereicht. Was macht es mit einem Menschen, der sich ständig zeigen muss, beweisen soll, dass er etwas wert ist? Die Achterbahn des Bewerbungsschreibens ist psychisch sehr belastend: Man muss sich zuerst hochschaukeln, um ein überzeugendes Motivationsschreiben zu präsentieren, dann warten, was die anderen entscheiden. Manchmal glauben, dass es diesmal gelingt, da man ja wirklich ideal zu der ausgeschriebenen Stelle passt. Und dann die Absage verkraften. Egal, ob man gerade stillende Mutter ist oder das Kind hohes Fieber hat. Man muss sich hochkrabbeln. Und von vorne anfangen. Bloss nicht umfallen. Nur ein paar Mal in diesen zehn Jahren bin ich umgefallen. Die letzte Erschöpfung war sehr stark. Sie hat meinen Partner dazu bewegt, Paris zu verlassen. Die Entscheidung war gut. Sehr gut. Er hat ein Atelier und eine kleine Wohnung in St. Louis gefunden. Jetzt findet sich die Familie wieder. Neun Jahre lang besuchte er mich und die Kinder fast jedes Wochenende. Beide gaben wir nicht auf, haben uns aber an den Rand körperlicher und emotionaler Kapazitäten getrieben.»

«Wenn ich ein Fazit zu den Geschichten von Anna Kuhn und mir formulieren würde, würde ich sagen: ‹Man muss durchhalten, kreativ bleiben, nicht aufgeben. Und es kommt gut.›»

Stimmen zu Akten

Daria Kolacka kommentierte die Fremdenpolizeiakte von Anna Kuhn im Rahmen der Blogserie «Stimmen zu Akten», die von Juni bis September 2017 auf den Blogs des Museums für Wohnkultur und des Staatsarchivs läuft.