Liebe Grüsse aus Moskau – 7

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Allgemein

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10 Jahre lang lebte und arbeitete Emil Speiser in Moskau, bevor er 1903 krankheitsbedingt in die Schweiz zurückkehren musste. 10 Jahre lang schrieb er an seine Eltern und Geschwister, berichtete aus dem Alltag in der Fremde, über das Fabrikleben und die russische Gesellschaft. Auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz und seinem Tod riss der Kontakt mit Moskau nicht ab. Witwe Mina Speiser erhielt weiterhin Briefe von ihren Freundinnen und Bekannten – bis zu den Novembertagen 1917.

So schreibt 1904 Hanny Giger (siehe Foto) aus Moskau an ihre Freundin Mina Speiser in der Schweiz, wie sie den Generalstreik erlebte:

Moskau den 2. Jan. 1904

Meine liebe Mina !

Von den schrecklichen Zeiten hier wirst Du wohl in den Zeitungen gelesen haben Es war wirklich ganz schrecklich. Am 8./21. Dez. fing der Generalstreik an & am 9. Dez. Abends gegen 1/2 10 Uhr hörte man plötzlich schiessen in der Stadt; wir trauten unsern Ohren erst nicht. Die Köchin fing an zu zittern. Gegen 11 Uhr fingen auch die Kanonen an zu donnern, Schuss auf Schuss, man sah den Blitz am Himmel vom Fenster aus.- Die Kinder erwachten & fingen an zu weinen. So ging’s dann fort, Tag & Nacht mehr als 8 Tage lang; am schauerlichsten klang es Nacht‘ s.-Bald knatterten die Gewehre & Maschinengewehre, dann donnerten die Kanonen dazwischen, so schrecklich war das anzuhören.- In der 3 ten Nacht schossen sie (Schlag 12 Uhr) auf der Serpochofskoi das grosse Gebäude von Sitin, erinnerst Du Dich . Es ist ein ganz neues riesiges Gebäude. Da hörte man die Kanonen gut, so in der Nacht & so nah.- Dann fing es natürlich auch durch die Schüsse an zu brennen & die Feuerwehr löschte keines dieser Häuser ein paar Tage lang brannten sie oft fort.­ Auch auf der Zazepe & hinten bei Zündel, wurde geschossen; die Junggesellen schliefen unten an uns; einer wachte immer abwechselnd im Hof. Mein Mann kam fast 8 Tage nicht aus den Kleidern; wir die Kinder & ich gingen immer ganz ins Bett. In unsrem Perfulok war’s ganz ruhig. Auf der Twerskoi bis zur roten Pforte & Triumph-Pforte wurde auch immer geschossen. Am ärgsten wurde ein Stadtteil, die „Pressdenski‘ weisst beim zolog. Garten zerstört. Dort sei kein Haus ganz geblieben, alle zerschossen & verbrannt, auch der zolog. Garten selbst sei beschädigt. Ich finde es so arg, dass die Streikenden einfach in Häuser gin­gen & den Einwohnern die Möbel herausrissen Divan, Büffet etc. – nur um die Barikaden zu bauen, um das Militair aufzuhalten & hinter den Barikaden versteckten sie sich auch.-

Moskau brennt

Wie viele, viele Tote & wie viel Unglück hat’s da gegeben. Viele der Streikenden flüchteten sich dann auch in Häuser, drückten die Haus­türe & hoben die Waroten auf. Andere gingen dann auf den „Tscherdak“ & schossen von dort auf die Kosaken. natürlich wurden dann diese Häuser beschossen & die armen unschuldigen Einwohner musstens büssen. Viele starben so, manche flohen & wurden unterwegs von den Kugeln niedergestreckt. – Ganz schreckliche Scenen sollen sich in der Stadt abgespielt haben. Viele hielten sich Tag & Nacht in ihrem „Pogrib“ auf. Viele haben Kleider, Haus, Möbel, alles verloren & jetzt wird nichts bezahlt, auch wenn man versichert ist, man bekommt in solchen Zeiten nichts.- Viele die bis jetzt wohlhabend gewesen seien, wissen nun nicht wo Brot her nehmen, zum Betteln schämen sie sich , weil sie gebildet stand letzthin in der hiess. Zeitung.- Du kannst Dir denken wie das war! Mehrere Hunderte der Revolutionären Partei wurden dann gefangen genommen, & schon lange gehe jede Nacht ein Zug Soldaten mit einigen dieser Gefangenen auf die Chadinka hinaus um sie dort zu erschiessen & dann an Ort & Stelle einfach einzuscharren. Dieser Tage wurde auch Tschitschkin so erschossen (der Sohn nämlich) vor den Augen seines Vaters! Ich finde es ganz schrecklich. Man sagt es fange vielleicht in 2-3 Monaten noch einmal an. Hoffentlich nicht!- Einer spricht so, der andere wieder an­ders!- Weisst auf der Presstenski sollen 18 Häuser (manche sagen noch mehr) auf einmal gebrannt haben, das war ein Riesenbrand, der Himmel war ganz rot.- Bekannte von Herrn Mannel die in Chinki wohnten, die meinten ganz Moskau brenne.-

Webstühle, Esskultur und Unruhen

Die übrigen Briefe im Staatsarchiv erzählen mehr davon, wie es Zettelmeister Speiser 1893 bis 1903 in der Bandweberei Handschin & Wirz in Moskau erging; wie der Schweizer mit der russischen Kultur zurechtkam; was er und seine Bekannten von den zunehmenden Unruhen um 1900 miterlebten. Auszüge aus den Briefen werden hier im Blog anlässlich der Museumsnacht 2017, die im Staatsarchiv unter dem Motto „Moskau einfach?“ steht, in einer kleinen Serie veröffentlicht.