Das Verderben in der Erbsensuppe

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Archivpädagogik

Schreiben an den Bundesrat, 1921. Staatsarchiv Basel-Stadt, Politisches JJ 8.4, S. 468

Eine Erzählung von Eva Oberli, entstanden 2018 im interdisziplinären Projekt „Krieg und Krise in Basel“ der Klasse 2MS (Geschichte und Deutsch) im Gymnasium Muttenz. Als Ausgangsmaterial und Inspiration dienten Archivquellen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt.

Ein Schuss. Die 9 mm Hartblei trafen ihn mitten im Gesicht und rissen ihn von den Füssen. Er hatte es kommen sehen, das Militärauto, wie es mit überhöhter Geschwindigkeit aus der Unteren Rebgasse gerast war, direkt auf die Menschenmassen zu. Blank polierte Gewehrläufe reckten aus den Wagenfenstern wie neugierige Jungtiere aus dem Mutterbau. Franz lag am Boden auf dem sonnengewärmten Teer, während ringsum Hektik ausbrach. Schreie, Schritte und Schubsen in alle Richtungen. Zwei Kinderfüsse in Lackschuhen traten dicht an seinen Kopf. Dann ein Geräusch, als würde jemand in eine Pfütze auf dem Gehweg treten. Oder in eine Blutlache auf dem Klaraplatz. Franz wurde ruhig. Kein Laut, kein Schmerz, sein Blick für die Aussenwelt verlosch. Er wartete auf einem Tunnel mit hellem Licht am Ende, auf die Stimme Gottes oder Engelsgesänge, die ihn an der Schwelle zum Jenseits willkommen hiessen.  Doch stattdessen schoben sich die Bilder der letzten Stunden vor sein inneres Auge.

Der Schaukelstuhl knarzt und ächzt. „Erinnerst du dich an den Sommer im Tannheimer Tal, als du mir Angeln beibringen wolltest, Onkel Theo?“ Franz lächelt. „Wir haben nur eine schäbige Bachforelle rausgezogen aber du wolltest hinterher allen weismachen, es sei ein Zweimeter-Zander gewesen.“ Franz sucht die Augen des alten Mannes, der im Schaukelstuhl wippt. „Und die Lotte hat dir jedes Wort geglaubt, so verliebt wie sie in dich war.“ Onkel Theos Atem fiept aus dem geöffneten Mund, seine Fingernägel schaben über die Armlehnen. Franz spürt die Gänsehaut, die ihm dieses Geräusch verursacht. Sie kriecht den Rücken hinauf bis zum Hals und lässt seine Stimme krächzen, als er weiterspricht.

„Wir sind nachhause gelaufen, um die Wette barfuss durch den Wald. Und du warst schneller als ich, aber hast mich gewinnen gelassen, weil ich derjenige sein sollte, der Mutter den Fisch in die Küche bringt. Mutter hat die Messer geholt, damit du mir zeigen konntest, wie man die Schuppen entfernt. Dann hast du den Bauch aufgeschlitzt, um ihn auszunehmen. Die Innereien wolltest du im Wald vergraben, aber die Katze war schneller. Sie hat alles Gedärm gepackt und über den frisch geschrubbten Fussboden aus der Küche geschleift. Und Mutter hat geschimpft und wollte…“ Franz hält inne, als er sieht, dass sich Theos Lippen bewegen. Er braucht ein paar Anläufe, bis erste verständliche Laute seinen Mund verlassen. „Das war so wie im Schützengraben,“ wispert er. „Als der Regen kam und die Gräben füllte, da standen wir im Morast. Und der Morast wurde immer mehr und immer tiefer und er vermischte sich mit dem Regenwasser und denn verschossenen Patronenhülsen und mit dem Blut der Gefallenen. Und die Luft war schmutzig und schmerzte beim Einatmen. Dann stand der Morast kniehoch und war nicht trocken zu legen, weil der Regen da war und es wurde immer noch mehr und dann war da der eine, der aus Wien. Bei ihm passierte es als erstes. Der Morast stand in seinen Stiefeln, dann faulte ihm das Fleisch von den Beinen und fiel ab, als er die Stiefel auszog. Und die wollenen Socken, die die Mutter ihm gestrickt hatte, die hielten noch, aber sie faulten auch und…“ Onkel Theo holt rasselnd Luft. „Und dann kamen die vom Lazarett und wollten ihn aus dem Graben holen. Zum IKRK würde er kommen, sagten sie, damit die ihm das Bein wieder zusammenflicken. Die Hände haben sie ihm gereicht, aber er konnte nicht hochsteigen, weil der Morast da war und alles rutschig machte und dann war da das verfaulte Bein. Es brauchte fünf Mann, um ihn in die Höhe zu heben.“ Theos Blick irrt im Raum umher wie im Wahn, verharrt und löscht aus, als die Bilder wiederkommen. „Sie haben ihn dann weggetragen und er winselte nur noch, wie ein geschlagenes Tier. Und der letzte, der sich umdrehte, der sagte noch, wir sollen unsere Stiefel und Socken trockenlegen, weil wenn das wieder passieren würde, dann käme das Ungeziefer in den Graben und wenn dir erst die Fliegen im fauligen Bein nisten, dann…dann ist’s vorbei.“ Er sackt zusammen. Sein Körper bebt, er wimmert, krallt sich fest und rutscht trotzdem fast vom Schaukelstuhl. Franz schnellt vor, will ihn festhalten. Als er Theo am Arm berührt, fährt der alte Mann zusammen. Er wirft den Kopf herum und starrt seinen Neffen an. Er erkennt ihn nicht. Seine Augen sind trüb. „Onkel Theo?“ Als er sich vorbeugt, zuckt Theo zurück.

Er atmet schnell und flach. Dann plötzlich ändert sich der Ausdruck in seinem Blick. Er wird angriffig. „Was hast du hier zu suchen, du Bengel?“, bellt er Franz an. „Willst mich wohl bestehlen, Haderlump! Du bist doch bestimmt auch einer von den Deutschen, siehst diesem Gesindel ähnlich.“ Franz’ Fingernägel bohren sich in seine Handfläche. Die pure Verachtung zeichnet sich in Theos Gesicht ab, als er weiterspricht. „Wegen euch Schweinen sitze ich jetzt hier! Die Lunge habt ihr mir verätzt, ihr verdammten…“ Seine Worte zerbröseln in trockenes Husten. Franz reagiert nicht darauf. Er erhebt sich stumm, wirft einen letzten Blick auf den verstörten, alten Mann, dann verlässt er das Zimmer.

„Du warst bei Theodor?“ Bertha sieht ihn ungläubig an. „Ich wollte ihm von früher erzählen. Ich dachte, es würde ihm helfen, sich an die schönen Zeiten vor diesem gottverdammten Krieg zu erinnern.“ Franz schiebt die Hände in die Hosentaschen. „Dann hat er von Wiener Beinen erzählt, die im Schützengraben von den Knochen faulten.“ „Was hast du denn auch erwartet?“ Bertha setzt ruckartig eine Suppenschüssel auf dem Tisch ab. „Dieser Mann ist kaputt. Der wird sich nie wieder an die schönen Zeiten erinnern. Alle Erinnerungen, die er noch hat, sind die an den Krieg. Blut und Artilleriegeschosse, das Geschrei, die Giftgase, Zerstörung, Verwundung, und der alles verschlingende Tod. Reich mir mal die Suppenkelle.“ Franz hebt den Kopf. „Bertha, ich habe dir doch vom alten Theo erzählt. Er hat mir Schwimmen beigebracht, Schnitzen und welche Pilze im Wald schmecken und welche Magenschmerzen machen. Jeden Tag kam er nach der Schule vorbei, immer ein Abenteuer im Visier. Und ich weiss doch, wie er früher war und wie er immer gesagt hat; Ein Gassenhauer und ein guter Teller Tiroler Knödel, danach sind wir wieder froh.“ „Franz, die Suppenkelle.“ Bertha streckt die Hand aus. „Das kann er doch nicht alles vergessen haben!“ Franz sucht den Blick seiner Frau, die sich an ihm vorbeischiebt und die Suppenkelle selber aus der Schublade holt. „Auch wenn der Krieg noch in seinem Kopf ist, da muss doch auch noch irgendetwas anderes sein!“ Verzweiflung schwingt in seiner Stimme. „Als ich mit den Eltern weg bin aus Österreich, damals war ich sechzehn, da hat er gesagt, er würde immer an mich denken, wenn ich dann in Basel wohne. Und ich habe ihm immer Briefe geschrieben. Wie es in der Maurer-Lehre so geht, wie die Stadt ist und ob die Rückenschmerzen von Vater besser geworden sind. Und Theo hat auf jeden einzelnen Brief geantwortet. Ich sollte ja schliesslich wissen, was in der alten Heimat so vor sich geht, meinte er.“ „Franz, bitte!“ Bertha schiebt die Schublade zu und dreht sich zu ihm um. „Hör dich nur mal reden! Ein Teller Tiroler Knödel und danach sind wir wieder froh? Der Mann war im Krieg! In der Neunten Isonzo-Schlacht! Er lag tagelang unterm Buntkreuz-Beschuss im Schützengraben. Das Giftgas hat ihm die Lunge kaputt gemacht, er stand neben dahinsiechenden Kameraden, ist über tote Körper gestiegen. Er hat das Schlimmste gesehen, wozu die Menschen überhaupt in der Lage sind! Und du glaubst, er erinnert sich noch an die guten Zeiten mit Tiroler Knödeln und eurem gemeinsamen Angeln beim Waldweiher?“ Bertha schüttelt den Kopf. „Schämst du dich eigentlich nicht, diesen armen Mann immer wieder mit deinen kindlichen Erinnerungen zu belästigen? Das macht es Theodor doch nur noch schwerer.“ „Ja, aber ich dachte, wo er jetzt hier in Basel ist, im betreuten Heim und ich ihn jeden Tag besuchen kann, da würde ihm das doch auch guttun!“  „Franz, Theodor ist nicht nach Basel gekommen, damit du mit ihm nett Kaffeekränzchen halten kannst! Er ist hier, weil er im Dienst für Österreich-Ungarn schwer verwundet wurde und das IKRK ihn aus dem Kriegsgebiet geholt hat. Der hat wirklich andere Sorgen! Du musst endlich lernen, dass das Vergangene vergangen ist. Einen gebrochenen Mann kann man nicht mehr zurückholen. Und wenn du dich weiterhin so krampfhaft an deiner Ideologie von Das Gute gewinnt immer festklammerst, dann machst du alle um dich herum kaputt. Weil du nicht akzeptieren kannst, wie das wahre Leben nun einmal ist. Egoistisch wie du nun mal bist.“ Bertha schöpft Suppe in einen Teller, den sie Franz hinstellt.

„Und jetzt iss, bevor alles kalt wird.“ Franz sinkt auf die Küchenbank nieder. Er taucht den Löffel in die Suppe und zieht ihn durch die erbsengrüne Flüssigkeit. „Findest du wirklich, ich bin egoistisch?“ Er schaut Bertha nicht an, aber er spürt förmlich, wie seine Frau jetzt die Augen verdreht. Ihr Löffel fällt klirrend in den Suppenteller. Sie dreht sich nach der Anrichte um und greift nach der Tageszeitung. „Die Schnösel aus dem Bürgertum geifern schon wieder gegen das Frauenstimmrecht.“ Sie schlägt eine Seite im hinteren Teil auf und hält Franz das Abbild vors Gesicht. „Schau dir das an! Als wären wir nur dazu da, eure Mahlzeiten zu kochen, euch die Kleidung zu waschen und eure Kinder auszutragen.“ Mit einem verächtlichen Schnauben legt sie die Zeitung auf der Tischplatte ab. „Es wären doch genauso deine Kinder.“ Franz tunkt ein Stück Brot in die Erbsensuppe. Bertha hebt den Kopf. „Was?“ „Was?“ Das Stück Brot in Franz‘ Hand zerfällt und platscht in die Suppe. „Was meinst du damit? Dass es auch meine Kinder wären?“ „Nun ja, deine Kinder eben. Halbe, halbe, sozusagen.“ „Sag mal, nimmst du mich überhaupt ernst?!“ „Was denn?“ „Die Frauen werden seit Jahrhunderten unterdrückt, und wenn es nach diesem reichen Pack geht, wird das auch noch bis in alle Ewigkeit so weiter gehen. Und das einzige, was dir dazu einfällt ist, halbe, halbe?!“ „Bertha, wovon reden wir eigentlich?“ „Du hörst mir nie zu!“ Bertha schiebt genervt den Stuhl zurück und steht auf. „Ich bin es leid! Weisst du, Franz, ich bin es wirklich leid!“ „Habe ich irgendwas Falsches gesagt?“ „Nein! Nein, ganz und gar nicht! Du bist schliesslich ein Mann und die Männer machen ja nie etwas falsch! Nein, es sind immer nur die niederen Weiber, die nichts können!“ „Ja, aber…“ „Ha! Da ist es schon wieder! Insgeheim glaubst du das doch auch. Dass ihr, die Herren der Schöpfung, über den Frauen steht.“ „Bertha, jetzt mach mal einen Punkt!“ Franz‘ Stimme ist lauter, als beabsichtigt. Bertha hebt die Augenbrauen. „Ach, sieh mal einer an. Plötzlich traut er sich zu sprechen.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Und? Was hat der Herr zu sagen?“ Franz beisst sich auf die Lippe. „Die…die Erbsensuppe ist köstlich.“ Bertha runzelt die Stirn, dann bricht sie in hämisches Lachen aus. „Das ist alles? Dafür bin ich gut genug, ja? Um dir eine drecksverdammte Erbsensuppe zu kochen.“ „Nein!“ Franz hebt die Hände. „Ich meinte nur, dass…“ „Weisst du was, Franz? Du bist einfach kein rechter Mann. Du traust dich ja noch nicht mal, der eigenen Ehefrau etwas entgegenzusetzten.“ „Wieso sollte ich das denn tun?“ Jetzt steht Franz auf und macht einen Schritt auf Bertha zu. „Du bist meine Frau und ich…“ „Wolltest du nicht zum Streik?“ fällt Bertha ihm ins Wort. „Dann solltest du dich langsam auf den Weg machen.“ „Zum Generalstreik? Da wolltest du doch hin.“ „Aber du bist das Familienoberhaupt, Franz.“ „Das bedeutet doch nicht, dass ich hingehen muss.“ „Unsere Zukunft steht auf dem Spiel! Der Krieg hat uns doch schon genug genommen. Und jetzt wollen die reichen Schnösel aus dem Bürgertum auch noch die Macht an sich reissen. Dagegen müssen wir uns wehren!“ „Eigentlich will ich mit diesem ganzen Krieg nichts mehr zu tun haben, Bertha. Es ist doch jetzt vorbei. Da finde ich, wir sollten uns eher darüber freuen, dass wieder Frieden herrscht.“ „Es geht aber nicht immer nur um dich, Franz!“ Berthas Stimme wird lauter. „Es geht darum, dass du für die Meinung und die Rechte der Arbeiter geradestehst! Für unsere Rechte.“ „Ist ja schon gut.“ Franz hebt beschwichtigend die Hände. „Dann geh ich eben.“

An der Haustür dreht sich Franz nochmal um. „Im Heim haben sie gesagt, Onkel Theo bräuchte noch frische Hemden.“ Er sucht Berthas Blick. „Würdest du zwei Stück rauslegen für mich? Dann kann ich die morgen auf dem Weg zu Arbeit noch vorbeibringen.“ „Ich werde sehen, ob ich noch genügend Zeit habe.“ Bertha weicht seinem Blick aus. „Und jetzt geh, sonst bist du wirklich zu spät am Klaraplatz.“

Gleissend helle Sonnenstrahlen blenden Franz, als er auf die Strasse tritt. Er schliesst für einen Moment die Augen und gerät im nächsten beinahe in Straucheln. Vor ihm auf dem Gehweg liegen zwei Handvoll Steine, die ihn beinahe zu Fall gebracht hätten. Bestimmt die Nachbarskinder, denkt Franz. Die spielen immer Goldgräber mit Steinen und bunten Glasmurmeln. Er bückt sich, hebt die Steine auf und lässt sie in die Jackentaschen gleiten. Auf dem Nachhauseweg würde er sie ihnen vorbeibringen. Franz geht bis zum Ende der Strasse, dann biegt er nach links ab in Richtung Burgvogtei. Plötzlich ist er umgeben von Menschen, eine gewaltige Masse, die ihn mit sich zieht. „Rüber zum Klaraplatz!“ ruft einer, Gejohle von allen Seiten. Franz schluckt. Die eben noch so köstliche Erbsensuppe liegt ihm mit einem Mal schwer im Magen. Sein Blick schweift durch die Menge. Niemand Bekanntes ist auszumachen, und auch zum Umdrehen ist es längst zu spät. „Für dich Bertha“, murmelt Franz und setzt sich in Bewegung.

Dicht an dicht gedrängt stehen hunderte Menschen am Klaraplatz. Franz schiebt sich zwischen einer Mutter mit Kind und einem Pulk grölender Maurer durch. Ihm ist speiübel. Genauso wenig wie die Übelkeit lassen sich auch die Gedanken an Theo nicht abschütteln. Die Gedanken an sein Verderben. Dieser einst so grossartige Mann, der zwar aus dem Krieg zurückkehrt ist, aber seither verwirrt und verbittert vor sich hinvegetiert. Das hat er einfach nicht verdient. Und noch viel weniger hat er es verdient, dass Bertha das einfach so abtut. Als ob man Menschen einfach abhaken könnte, wenn sie nicht mehr so spuren, wie sie sollen. Franz umklammert den Stein in seiner Jackentasche. „Diese verfluchte Erbsensupp!“, murmelt er. Er reisst den Arm hoch und schleudert den Stein von sich. In dem Moment heult der Motor eines Autos auf. Ein Militärwagen prescht um die Ecke. Viel zu schnell, um vor den Menschen abbremsen zu können. Dass geschossen wird, registriert Franz erst, als ihn etwas ihm Gesicht trifft.

Und da lag er. Ganz ruhig, während Blut und Leben aus ihm herausrannen. Die gellenden Schreie der Umstehenden hörte er nicht mehr. Er blinzelte nicht mehr. Seine Brust hob und senkte sich auch nicht mehr. Er lächelte. Verflüchtigt.