Erzählen vom Unrecht: Lebensgeschichte eines Heimkindes

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Allgemein

paul richener

Was für eine Geschichte: In den 1950er-Jahren wird ein kleiner Knabe seiner Familie weggenommen. Er wird „administrativ versorgt“ – Pflegeeltern, Kinderheim, Pflegeeltern, Kinderheim, Pflegeeltern, Jugendheim. Und erst als er volljährig ist, erhält er erstmals die Chance, sein Leben selbst zu bestimmen. Die Geschichte von Paul Richener ist kein Einzelfall. Sie berichtet von der jahrzehntelangen Praxis „administrativer Versorgung“, wie sie in der Schweiz angewendet wurde.

Geschichte einer administrativen Versorgung

Paul Richener hat seine Lebensgeschichte in Buchform veröffentlicht. Unter dem plakativen Titel „Aus dir wird nie etwas!“ – was er eine Jugend lang zu hören bekam. Aufgewachsen in Kleinbasel, in einer Arbeiterfamilie, in einem wenig geordneten Haushalt, brachte ihn der Vater 1954 zu Pflegeeltern nach Riehen. Zuhause war kein Auskommen mehr, als die Mutter wegzog. Obwohl der Vater genau das vermeiden wollte, griff dann die Behörde ein. 1956 wurde der inzwischen schulpflichtig gewordene Paul Richener von einer Fürsorgerin abgeholt und ins Kinderheim gebracht. Nun begann ein jahrzehntelanger Leidensweg. Paul Richener wurde hin- und hergeschoben, überall mehr als lästige Aufgabe behandelt denn als Kind respektiert, vernachlässigt, ausgenutzt. Auch auf dem Baselbieter Bauernhof, wohin ihn seine letzten Pflegeeltern holten, lebte er eher als Knecht denn als Kind. 1965 wurde er ins Basler Jugendheim verlegt. Nicht weil er straffällig geworden wäre wie andere Jugendheiminsassen. Sein Bruder hatte die Verlegung veranlasst, in Absprache mit der Fürsorgebehörde – überliefert ist in den Akten aber nichts.

1969 wurde Paul Richener aus dem Jugendheim entlassen, er war volljährig geworden. Seine Wunschlehre zum Bauzeichner hatte er nie antreten dürfen, Gärtner war er geworden. Nun nahm er sein Schicksal selbst in die Hand. Er wechselte den Job, heiratete, wurde Vater. Und er bewarb sich erfolgreich an der Polizeischule. Auf das Reihenhäuschen folgte der Hausbau, und 2000 wählten ihn seine Nachbarn sogar zum Gemeindepräsidenten. „Aus dir wird nie etwas“?

Auf Spurensuche

Auch wenn die Geschichte von Paul Richener sich wie eine Erfolgsgeschichte liest: Die Vergangenheit liess ihn nie los. Lange Jahre redete er nicht darüber. Als aber in der ganzen Schweiz die Diskussion über das Unrecht gegenüber Verding- und Heimkindern begann, machte er sich auf die Spurensuche. Er wollte wissen, warum er derart hin- und hergeschoben wurde. Auf der Suche nach Belegen wurde Paul Richener im Staatsarchiv fündig: Dort liegen die Dossiers des Basler Jugendheims. Darin: Wachstums- und Gewichtstabellen, Kleiderlisten, Briefwechsel über Kostengutsprachen bei Zahnbehandlungen, Stipendiengesuche, Journaleinträge der Erzieher und des Lehrmeisters. Was aber nicht drin steht: eine Begründung für den Freiheitsentzug und die Einweisung ins Jugendheim.

Hilfe vom Staatsarchiv

Die Lebensgeschichte Paul Richeners ist eine eindrückliche Geschichte. Bis heute weiss er nicht, warum die Behörden so mit ihm umsprangen. Gefragt wurde er nie. Dass in den Akten nichts steht, hat nichts mit Vertuschen zu tun. Bis 1981 brauchten die Behörden kein Gerichtsurteil für solche Zwangsmassnahmen. Was im Archiv erhalten ist, hilft dennoch weiter bei der Rekonstruktion von Unrecht. Und bei der Wiedergutmachung: Bis 2018 können Betroffene ein Gesuch auf Wiedergutmachung einreichen. Im Staatsarchiv Basel-Stadt arbeiten zur Zeit drei Mitarbeitende daran, solche Anfragen wie die von Paul Richener zu beantworten, Dokumente zu suchen und bereitzustellen.