„Administrativ versorgt“: Aufarbeitung von Unrecht

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Allgemein

AL 3

Im Waisenhaus Basel, um 1930. Die hier abgebildeten, namentlich nicht identifizierten Kinder befanden sich wohl aus unterschiedlichen Gründen im Waisenhaus. Staatsarchiv Basel-Stadt, AL 3

Das ist keine einfache Geschichte – nicht für die Schweiz, und erst recht nicht für die vielen Betroffenen. Bis 1981 wurden in der Schweiz ungezählte Kinder und Jugendliche Opfer von sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (FSZM) oder Fremdplatzierungen. Das  heisst: Sie wurden in Heime oder Strafanstalten eingewiesen, als Verdingkinder weggegeben, zwangsadoptiert oder in ihren Reproduktionsrechten beschränkt (durch  unter Zwang oder ohne Zustimmung erfolgte Abtreibungen, Sterilisierungen, Kastrationen). Die Kinder und Jugendlichen stammten aus armutsbetroffenen Familien, sie waren Waisen, Halbwaisen oder unehelich geboren. Immer wieder kam es vor, dass fremdplatzierte Kinder und Jugendliche Opfer von Gewalt und Missbrauch wurden, welche aufgrund mangelhafter Umsetzung bestehender Gesetze und vorgeschriebener Kontrolle oder Abgeschiedenheit der aufnehmenden Familien / Anstalten nicht geahndet wurden. Jugendliche und Erwachsene konnten von Verwaltungsbehörden bis 1981 ohne Gerichtsurteil und ohne Rekursmöglichkeit auf unbestimmte Zeit zur sogenannten Nacherziehung oder Arbeitserziehung in geschlossene Institutionen / Strafanstalten eingewiesen werden. Als Begründung reichte beispielsweise ein zu häufiger Stellenwechsel oder die Schwangerschaft einer ledigen Frau. Die Betroffenen konnten sich in der Regel zu den Vorwürfen nicht äussern und verfügten über keine Rechtsmittel, um sich gegen diese Massnahmen zu wehren.

Wiedergutmachung

Nach langem Drängen ist nun ein Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981  verabschiedet und auf den 1. April 2017 hin in Kraft getreten. Die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffenen Menschen werden damit offiziell rehabilitiert. Die Behörden anerkennen das Unrecht, das diesen Menschen angetan wurde. Und es wird der Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag festgehalten. Dieser ist ein Zeichen der Anerkennung des zugefügten Unrechts und soll zur Wiedergutmachung beitragen. Bis 31. März 2018 können Betroffene ein entsprechendes Gesuch einreichen.

Das Archiv hilft

Wer als Kind oder junger Mensch derart behandelt worden ist, vergisst es wohl zeitlebens nie. Für die Einreichung eines Gesuchs sind aber auch Belegdokumente notwendig. Und hier leistet das Archiv Hilfe. Es gehört zu den Kernaufgaben eines Staats-Archivs, behördliches Handeln zu dokumentieren und für die Nachwelt nachvollziehbar zu machen. Das betrifft auch Handlungen, die früher legal waren, aus heutiger Sicht aber als falsch beurteilt werden. Die in Staatsarchiven aufbewahrten Unterlagen dokumentieren also auch Unrecht – zugunsten der Opfer. Und Staatsarchive unterstützen Betroffene, um ihr Recht geltend machen zu können.

Im Staatsarchiv Basel-Stadt sind momentan drei Mitarbeitende damit beschäftigt, Anfragen von Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen zu beantworten. Sie recherchieren in den archivierten Unterlagen, und sie recherchieren in den Unterlagen, die noch bei den Behörden lagern. Das ist alles andere als einfach. Je nachdem war eine andere Behörde zuständig, lagern die Unterlagen in andern Abteilungen. Da gab es das Jugendamt, die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden, den Frauenverein als ausführendes Organ bei Pflegkindern, das Polizeidepartement als Antragssteller bei Zwangsversorgung, die Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin und der Psychiatrischen Klinik, die einzelnen Heime und Anstalten, das Zivilgericht bei Entscheiden über das Sorgerecht bei Scheidungsfällen, das Schularztamt und andere mehr. Zusätzlich kommt erschwerend dazu, dass nicht mehr alle Unterlagen vollständig vorhanden sind, da bereits in den 1980er-Jahren gewisse Aktenbestände vernichtet worden sind.

Steigende Zahl von Anfragen

Bis Ende 2017 sind insgesamt 227 Anfragen von Betroffenen ans Staatsarchiv Basel-Stadt gerichtet worden, 127 davon allein im Jahr 2017. Bis zum Ablauf der Gesuchsfrist (31. März 2018) dürfte die Gesamtzahl nochmals deutlich anwachsen. Das entspricht zur Zeit etwas mehr als der Hälfte der vom Bundesamt für Justiz erstellten Prognose (430), welche das Bundesamt für die Kantone erstellt hat. Grundlage dafür waren die statistischen Informationen über fürsorgerische Zwangsmassnahmen, wie sie in den Jahresberichten der Behörden und im Statistischen Jahrbuch dokumentiert sind. In Basel-Stadt wurden zum Beispiel im Zeitraum zwischen 1915 und 1980 über 1500 Personen zwangsweise in Trinkerheilanstalten, Heil- und Pflegeanstalten, Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten eingewiesen. Und die Jugendschutz- und Jugendstrafkammer veranlasste zwischen 1943 und 1980 über 2300 Versorgungen und knapp 900 Adoptionen; betroffen davon waren gut 3800 Personen. Das Ausmass des historischen Unrechts ist gross, und es gibt unzählige Betroffene, die sich noch nicht zu Wort gemeldet haben.

Praktische Informationen

Website des Schweizerischen Bundesamts für Justiz mit weiterführenden Informationen

Webseite des eidgenössischen Delegierten für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen

Kontaktformular des Staatsarchivs Basel-Stadt

Wikipedia-Artikel zu Administrativer Versorgung

Zur Wiedergutmachung gehört ebenfalls die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema: Der Bundesrat hat dafür eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt, die die administrative Versorgung und andere fürsorgerische Zwangsmassnahmen in der Schweiz bis 1981 erforscht.

Website der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen