Unrecht anerkennen

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Allgemein

Am 25. Oktober 2021 wurde im Hof des Basler Rathauses eine Gedenktafel für die Opfer von Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen bis 1981 enthüllt. Staatsarchivarin Esther Baur wandte sich dabei mit folgenden Worten an die Anwesenden:

Ob geschehenes Unrecht wieder gut gemacht werden kann? Nein. Eben, weil es schon passiert ist und erlitten wurde und weil die Folgen von Unrecht sich in Lebensgeschichten einschreiben.  

Sehr geehrte Betroffene, Sehr geehrte Angehörige, Sehr geehrte Gäste

Das Thema Wiedergutmachung und die Begegnung mit den Betroffenen von administrativen Versorgungen und Zwangsmassnahmen begleiten mich seit vielen Jahren und ich kann mich sehr gut an die ersten Archiv-Besuche von Betroffenen erinnern, das war 2013.

Wenn ich Sie, liebe Betroffene, bei den vielen Gesprächen richtig verstanden habe, war es nicht die Idee der Wiedergutmachung, die Ihnen am wichtigsten war, sondern die Anerkennung des Ihnen wiederfahrenen Unrechts.  Dass Sie und Ihre Geschichte endlich ernst genommen wurden, dass Ihnen endlich zugehört wurde, dass endlich nachgefragt wurde, dass Fehler und Unrecht eingestanden werden konnten, dass allmählich ein Dialog entstehen konnte und ein beidseitiger Austausch möglich wurde. Auch wenn es spät war, für viele zu spät, wie wir wissen. 

Die Rolle des Archivs war es, für die Betroffenen möglichst alle im Archiv über sie vorhandenen Unterlagen herauszusuchen, für die Gesuche an den Bund und für Sie persönlich.  

Insgesamt sind seit 2013 503 Gesuche eingetroffen. 482 von direkt Betroffenen, 21 Anfragen durch Nachkommen; also weitaus mehr als die 430 Gesuche, die ursprünglich prognostiziert worden waren.

In Basel ist eine breite Überlieferung von Akten vorhanden, mit ein paar empfindlichen Lücken bei den kantonalen wie auch den privaten Heimen. Einige Lücken haben wir auch bei den Akten des Jugendamts festgestellt. Die aktenproduzierenden Stellen waren die Vormundschaftsbehörde, der sozialpädagogische Dienst der Schulen, der schulpsychologische Dienst, die Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik, die Heime, die Pflegekinderaufsicht, das Zivilgericht mit den Scheidungsakten und Eheaudienzakten, die Kantonspolizei und Einwohnerkontrolle.

Diese Unterlagen – die Betroffenen haben das in aller Härte erfahren – dokumentieren ausschliesslich die Sicht der Institutionen und Personen, die die Dokumente verfassten. Die Akten enthalten die Beschreibung von Personen, sie interpretieren und sie be–urteilen. Sie halten in chronologischer Reihenfolge fest, welche Massnahmen vollzogen und welche Entscheide getroffen wurden. Sie dokumentieren eher selten direkte psychische und physische Gewalt. Doch wie gewalttätig Sprache sein, davon zeugen diese Akten auch. Deshalb war die Vorbereitung und die Begleitung der Aktenlektüre so wichtig. Unvorbereitet sollte niemand solche Akten lesen müssen.

Wie hängen denn Geschichte, Biografie und Archiv zusammen?
Der Zugang zu den Akten ermöglichte nicht nur die korrekte Gesuchseingabe. Gemäss der Schilderung von Betroffenen halfen die Akten ganz direkt bei der Rekonstruktion ihrer Geschichte. Für viele wichtig war beispielsweise die Rekonstruktion der Abfolge von Ereignissen, die so weit in die Kindheit zurückreichten, dass sie nicht erinnert werden konnten. Vielen von ihnen fehlten ganze Teile Ihrer Biografie, weil sie auf Fragen keine Antworten erhalten hatten oder abgespiesen worden waren. Es sei ihm nie etwas erklärt worden, geschweige denn begründet, erklärte mir einmal ein Betroffener. Deshalb war es so wichtig, schwarz auf weiss in den Unterlagen zu lesen, welche Personen, welche Instanzen welche Entscheidungen und Beschlüsse gefällt hatten – und wann genau und mit welchen Begründungen das geschah.

Die Vernichtung solcher Unterlagen, wie es immer wieder von VertreterInnen des sogenannten «Rechts auf Vergessen» gefordert wird, sei deshalb für sie nicht nachvollziehbar, formulierte einmal eine Betroffene und legte grössten Wert auf die Bestätigung des Archivs, dass der Erhalt dieser Akten gesichert sei. Diese Unterlagen sind unverzichtbar für das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung.

Das führt mich zum letzten Punkt, zur Forschung: Wir vom Archiv haben enorme Mengen von Akten gesichtet und viel über unsere Archivbestände gelernt und Sie, verehrte Betroffene, sind vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt mit solchen Schriftstücken in Berührung gekommen. Wie aber sieht in Basel der Stand der Forschung aus? Zu Basel sind einige wichtige Einzelstudien entstanden. Aber der Fokus der grossen Forschungsprojekte, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden, lag grösstenteils auf den grossen Kantonen wie etwa Bern.

Die Basler Quellenlage ist ausgezeichnet, aber uns fehlt nach wie vor ein Gesamtbild zur spezifischen Situation in Basel und wir haben vieles, auch ansatzweise, noch nicht verstanden: Wie genau und auf welchen Grundlagen handelten die Basler Institutionen, wie zum Beispiel kooperierten Polizei und Psychiatrie mit dem schulpsychologischen Dienst, wie sah die Zusammenarbeit mit den anderen Kantonen aus, was wurde dorthin delegiert?

Beim beklagten Geschehen handelt es sich nicht um punktuelles oder situatives Fehlverhalten, sondern um systematisches Unrecht. Es geht um strukturelle Gewalt, begünstigt durch Institutionen, die Gesetzgebung und gesellschaftliche Normen, ausgeübt an hilflosen und rechtlosen Menschen. Deshalb wünsche ich mir als Historikerin, Archivarin und Mensch, dass diese konkreten Umstände genauer erforscht und die Resultate für alle sichtbar gemacht werden – damit wir daraus lernen können und damit wir in Zukunft Vergleichbares besser vermeiden können.
Es gibt erste Signale der Bereitschaft, ein solches Projekt für Basel an die Hand zu nehmen. 

Zum Schluss möchte ich die Gelegenheit ergreifen, mich bei Ihnen zu bedanken, verehrte Betroffene: Für die vielen bereichernden Begegnungen und Gespräche, für Ihre Geduld und das Verständnis für die unvollständige Aktenlage oder gar fehlende Akten. Ihre Geschichte hat uns in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass direkte Eingriffe des Staates in die Biografie von Menschen nachvollziehbar und rekonstruierbar bleiben.

Danke!

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