Welche Geschichte erzählen historische Fotografien? Und wessen Geschichte? Ein Gastbeitrag von Mirco Melone, wissenschaftlicher Archivar und Fotohistoriker.
Schon seit einigen Jahren boomt die historische Fotografie. Davon zeugen unzählige Kolumnen, online-Plattformen und Blogs wie dieser. Es scheint, als habe die alltägliche und fast alles umfassende Digitalisierung die Hinwendung zu authentischen historischen Fotos noch verstärkt. Denn gerade den nicht-digitalen Fotografien ist noch immer der Nimbus des Echten und Tatsächlichen eigen. Hier lohnt es sich, die jeweiligen Rahmenbedingungen von Fotografien unter die Lupe zu nehmen: Welche Geschichte(n) zeigen Fotografien und wessen Geschichte ist das? Allzu oft zeigt sich nämlich, dass Akteure, ihre archivarischen Praktiken und institutionellen Logiken minutiös darüber bestimmen, welche Geschichte in Fotografien schliesslich sichtbar ist.
Dem Trend zur historischen Fotografie verschliessen sich auch die Schweizer Archive, Museen und Sammlungen nicht. Das Archiv der Fotografendynastie Hoffmann, das im Sommer 2018 vom Staatsarchiv Basel-Stadt der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, ist hier ein weiteres Puzzlestück im Gesamtbild. Seit den 2000er-Jahren übernehmen öffentliche Institutionen riesige Bildbestände. Es handelt sich dabei um Archive von Fotografien wie Hoffmann, von kommerziellen Bildagenturen wie ASL (Schweizer Nationalmuseum), von Verlagen wie Ringier (Staatsarchiv Aargau) oder von Bilderdiensten wie Comet Photo AG (ETH Bibliothek Zürich). Diese Bestände werden dann zu historischen Kulturgütern umcodiert, es findet also eine Art Fotorecycling statt. Eine Entwicklung, die weltweit beobachtbar ist.
Die Umcodierung zu historischen Fotografien ist das vorläufige Ende eines vielschichtigen Prozesses. Bereits seit den 1970er-Jahren laufen in Magazin- und Archivräumen mannigfaltige Digitalisierungsprozesse. Diese Prozesse haben Geschichte gemacht, genauer: Sie haben Fotografien im grossen Stil in eine kommerziell verwertbare Geschichte transformiert. Das zeigt die eben publizierte Studie „Zwischen Bilderlast und Bilderschatz. Pressefotografie und Bildarchive im Zeitalter der Digitalisierung“ (Wilhelm Fink Verlag, 2018). Darin werden erstmals verschiedene historische und mediale Konstellationen ausgeleuchtet, in denen Gebrauchsfotografien digitalisiert und zu Geschichte – zu Kulturgut – gemacht wurden.
Spannend sind historische Fotografien also nicht unbedingt, weil sie Geschichte zeigen. Aufschlussreicher ist da schon die Frage, warum und wie Fotografien an Geschichte und zugehörige Geschichtsbilder geknüpft worden sind. Gefragt ist also ebenso ein Blick hinter und neben die Bilder – in die Archive! Das scheint mir vor dem Hintergrund der zunehmenden digitalen Verfügbarkeit von historischen Fotografien wichtiger denn je.
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