Von unschätzbarem Wert: Fremdenpolizeiakten im Staatsarchiv

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Aktenzeichen, Blogserie, Magnet Basel

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Da steckt Geschichte drin, besser gesagt: Da stecken Geschichten drin. Und zwar Hunderttausende. Geschichten von Menschen, die in Basel Zuflucht suchten, Arbeit, Liebe oder ganz was anderes. Über einen Kilometer Regale füllen die Akten der kantonalen Fremdenpolizei im Staatsarchiv Basel-Stadt. Es ist eine Quelle von unschätzbarem Wert. Denn es sind nicht einfach Unterlagen, die aus Platzgründen von einer Behörde ins Archiv verschoben wurden. Sondern es sind Unterlagen, die vom Archiv als aufbewahrungswürdig bewertet wurden. Aus gutem Grund: Hier steckt nicht nur Stoff für die akademische Forschung drin, sondern auch viel Erfahrung und Wissen, das direkt unter die Haut geht. Die Probe aufs Exempel lässt sich ab sofort in fünf Ausstellungen des Projekts «Magnet Basel» machen. Dort werden diese Akten, thematisch gebündelt, gezeigt und kommentiert.

Persönliche Geschichten

Die Akten der baselstädtischen Fremdenpolizei reichen zurück bis ins frühe 20. Jahrhundert. Doch sie erzählen nicht bloss von alten Geschichten. Oft ist darin auch ein Stück Familiengeschichte dokumentiert, das bis heute nachwirkt und sonst vielleicht vergessen ginge. Nachkommen von einstigen Kriegsflüchtlingen erfahren aus diesen Dossiers, was ihre Grosseltern und Eltern erlebt haben, worüber diese nie oder nur ungern Auskunft gaben. Handgeschriebene Briefe und Lebensläufe erhellen das Ausmass an Verzweiflung oder Aufbruchsstimmung, das die Biografien von Immigranten prägte. Und die behördlichen Berichte und Stellungnahmen lassen erahnen, wie das Leben der «Fremden» damals von Unsicherheit, Kontrolle oder auch Wohlwollen und Unterstützung geprägt war.

Spannende Geschichten

Wer so ein Fremdenpolizeidossier durchblättert und nicht nur die Zusammenfassung liest, macht eine prägende Erfahrung: Das sind keine Memoiren oder Biografien, das sind Dokumente von Verwaltungsvorgängen. Ein Grossteil der Akten besteht aus Formularen und Standardbriefen, die belegen, wie ein solcher «Fall» behandelt wurde. Selten sieht man es dem Dossier äusserlich an, was es an Geschichten birgt, da steht meist bloss ein Name drauf und eine Nummer. Man beginnt zu lesen, blättert und blättert, und stösst plötzlich auf Ungeahntes. Da findet sich ein Polizeibericht über die Wohnsituation eines Eingereisten, da ein Brief, der in wenigen Worten vom Existenzkampf einer ledigen Mutter berichtet. Missgünstige Nachbarn denunzieren eine junge Frau, die angeblich eine andere Tätigkeit ausübe als bewilligt. Und ein KZ-Überlebender wird im Laufe der Jahre und des Dossiers zum angesehenen Kunstsammler.

Die Vielfalt der Schicksale und Motive ist gross. In ihnen widerspiegeln sich die grossen Umbrüche, die Emigrationen der beiden Weltkriege, die Krisen und Konjunkturen der Weltwirtschaft. Lesbar werden aber auch die Auswirkungen der besonderen Verhältnisse im Dreiländereck Basel, des kleinen Grenzverkehrs mit Deutschland und Frankreich: Fluchtversuche, Grenzheiraten, Verwandtenbesuche etc.

Und hinter den spröden Formularen und Formulierungen werden ansatzweise auch die behördlichen Akteure spürbar, ihre Vorbehalte wie ihr Mitgefühl. Beim Lesen der Geschichten begreift man, dass diese Migrationsgeschichten ja immer als offene Geschichten erlebt wurden. War man erst eingereist, konnte es zu einem jahrzehntelangen Hin und Her mit der Fremdenpolizei kommen, bis der eigene «Fall» für die Behörden durch Heirat oder Einbürgerung, durch Wegzug oder Todesfall als abgeschlossen galt. Geschichte, das machen diese Fremdenpolizeidossiers als Fallgeschichten nachvollziehbar, wird von Menschen gemacht.

Basler Geschichten

Wertvoll ist dieser fremdenpolizeiliche Aktenbestand auch aus einem anderen Grund. In keinem anderen Schweizer Kanton ist ein derart umfassender und – trotz mancher Lücken – vollständiger Bestand einer kantonalen Fremdenpolizei erhalten geblieben. Nur in Basel sind solch vielfältige, über ein ganzes Jahrhundert reichende Quellen für eine regionale Geschichte der Migration vorhanden. Eine ideale Ausgangssituation für die geplante neue Basler Geschichte. Für die Entwicklung der Grenzstadt Basel war Migration eine prägende Kraft. Da tauchen manche Namen in den Dossiers von Einreisewilligen auf, die später als bestens integrierte Basler Persönlichkeiten galten oder die Erfolgsgeschichte der Pharmaindustrie mitgestalteten.

Anhand der Aktenserien lässt sich auch erforschen, ob Basel einen anderen Umgang mit «dem Fremden» pflegte, wie man hier eidgenössische Gesetze im regionalen Raum umsetzte, was für Fremdbilder und Stereotypen vorherrschten. Was bedeutete die räumliche, soziale und kulturelle Nähe zum Ausland? Welche Eigenschaften empfand man als stossend fremd, und was daran war typisch baslerisch, was typisch schweizerisch? Über die Rekonstruktion von Einzelschicksalen hinaus erlaubt der Gesamtbestand der Fremdenpolizeiakten einen kritischen Blick in das baslerische Selbstbild einer offenen Stadt.

Politische Geschichten

Und ja, es geht auch um Politik. Um das Verstehenkönnen einstiger politischer Entscheide und Handlungsmöglichkeiten. Aber viel grundlegender auch um politisches Bewusstsein: Migration ist kein Betroffenheits- oder Spartenthema, sondern eine gesellschaftliche Entwicklung, die uns alle stärker prägt als vielleicht bewusst. Wer die Fremdenpolizeidossiers durchliest, begreift, was für Auswirkungen Paragrafen auf Lebenswege von Individuen wie Gesellschaften haben können. Hilfreich ist hier der Vergleich mit den aktuellen Migrationsbiografien, wie ihn der Ausstellungsteil im Staatsarchiv ermöglicht.

Die Ausstellung Magnet bezieht keine politische Stellung zur aktuellen Migrationsdebatte. Dem Staatsarchiv geht es um etwas Anderes: Als Gedächtnis von Staat und Stadt sorgt das Staatsarchiv für (historische) Transparenz. Es macht nachvollziehbar, wie staatliche Organe gehandelt haben – damit die Entwicklung hin zur Gegenwart verständlich und diskutierbar wird. Das gehört zur Ethik des Archivs: Transparenz ermöglichen, öffentlichen Zugang zu Information sicherstellen. Damit (alternative) Fakten überprüft werden können; damit historische Mythen nicht unwidersprochen zitiert werden können.

Ausgestellte Geschichten

Die Fremdenpolizeiakten, die im Staatsarchiv Basel-Stadt aufbewahrt werden, sind der Ausgangsstoff für das Ausstellungsprojekt Magnet Basel. Fünf Ausstellungen beleuchten unterschiedliche Zusammenhänge und Themen rings um die Migrationsgeschichte im Dreiländereck Basel. Der Pavillon im Hof des Staatsarchivs präsentiert historische und aktuelle Migrationsbiografien; das Museum für Wohnkultur zeigt die Vielfalt von Lebensgeschichten; das Dreiländermuseum in Lörrach macht auf die Erfahrungen von badischen Dienstmädchen aufmerksam, die in Basel Arbeit suchten; im Museum.BL wird sichtbar, was die italienischen Arbeiterinnen in die Hanro nach Liestal lockte; im Theater Basel sind die Arbeits- und Lebensbedingungen von ausländischen Schauspielenden in den (Zwischen-)Kriegsjahren Thema.

P.S. Nochmals zum Wert

Welchen Wert hat ein Schriftstück von 1941, ein behördliches Schreiben der Fremdenpolizei, maschinengetippt? Die Antwort lautet: Je nachdem. Denn ein Archiv sichert Erinnerungen fernab von Sammlermärkten. Ein Archiv garantiert die Nachvollziehbarkeit von einstigem Handeln, das Überprüfen von Informationen, die kritische Betrachtung und (Re)Interpretation von Geschichte. Für ein Archiv ist im Grunde eine Information von unschätzbarem Wert. Muss eine Archivalie versichert werden, wenn sie zum Beispiel an eine Ausstellung ausgeliehen wird, gibt es zwar Kriterien zur Bestimmung des Versicherungswerts. Eine mittelalterliche Urkunde ist von höherem Frankenwert als ein Schriftstück aus dem 19. Jahrhundert, ein ganzes Dossier wird mit mehr Geldwert veranschlagt als ein Einzeldokument. Aber dem liegen keine inhaltlichen Wertmassstäbe zugrunde. Wenn der ökonomische Wert von Archivalien beziffert wird, geht es um den Wiederherstellungswert, nicht um den Verlustwert: Was würde es kosten, um ein beschädigtes Dokument zu restaurieren, um die darin enthaltene Information zu retten? Nur ganz selten, bei herausragenden Dokumenten wie einer kaiserlichen Goldbulle oder der Krankengeschichte von Friedrich Nietzsche, lässt sich ein geschätzter Marktwert berechnen (für den Fall eines Diebstahls und Wiederverkaufs).

Archivalien sind Unikate von unschätzbarem Wert. Ihre Bedeutung, ihren eigentlichen Wert erhalten sie dadurch, dass sie als Teil eines Zusammenhangs lesbar sind, als Teil einer Überlieferung, als Teil einer Geschichte. Deshalb hat ein behördliches Formularschreiben, so stereotyp-standardisiert es auch erscheint, einen unersetzbaren und unschätzbaren Wert: für die Lebensgeschichte, in deren Zusammenhang es auftaucht, für die Geschichte der Stadt und des Staates, aus dessen Handeln heraus es entstanden ist.