Fast ein halbes Jahr lang stand vor der Eingangstüre des Staatsarchivs ein Versuchslabor. Werktags (und immer wieder auch mal sonntags) zu Bürozeiten, ohne Anmeldung, ohne Aufsicht, einfach so konnten Passanten im Pavillon der Ausstellung «Magnet Basel» historische und aktuelle Migrationsdossiers durchblättern. Als sässe man im Archiv selbst. Es kamen neugierige Touristen vorbei, Schulklassen mit ihren Lehrkräften im Projektunterrricht, Verwaltungsmitarbeitende aus dem nahen Rathaus, ältere Menschen auf der Suche nach dem Schicksal ihrer Vorfahren, Studierende, Migrationsfachleute, Migranten … und immer wieder und zur Hauptsache: Personen ohne Vorwissen, ohne vorformulierte Recherchefragen; Personen, die sich für historische Themen mit Zeitbezug interessieren, von sich aus aber nie einen Fuss ins Archiv setzen würden. In einen solchen offenen Lesesaal hingegen kamen sie, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Lektüre der Akten begleitet und vermittelt wurde.
Aufmerksamkeit und Neugier
Um es vorwegzunehmen: Aus Sicht des Staatsarchivs war das Versuchslabor «Temporärer Lesesaal im Innenhof» ein Erfolg, und zwar in vielfacher Hinsicht. Besucherzahlen konnten vom Staatsarchiv keine systematisch erhoben werden. Doch aus der wiederholten Beobachtung heraus ergibt sich ein beachtliches Total. Wie bei jeder Ausstellung gab es kurze Besuche und länger dauernde. Einzelne Personen sassen während mehrerer Tage für jeweils Stunden auf den Leseplätzen und vertieften sich in jedes Migrationsdossier. Bei anderen Gruppen (Schulen!) dürfte die Auseinandersetzung vor dem Besuch begonnen wie danach angedauert haben. Dies gilt ganz sicher für alle Besuchenden, die – angeregt durch die Austellung – die aufgelegten Rechercheformulare für weitere Migrationsakten ausgefüllt haben. Die japanische Touristengruppe hingegen dürfte zwar wenig historische Informationen mitgenommen haben, aber vielleicht einige Instagramposts zu zeitgemässer Archivarchitektur verschickt haben.
Jeder Besuch im temporären Lesesaal lässt sich auch als Besuch des Staatsarchivs verstehen, wurden doch Bestände des Archivs präsentiert und kommentiert. Zu diesen physischen Kontakten kamen während der Ausstellungsdauer die Begegnungen mit dem Archiv im virtuellen Raum. Das Staatsarchiv und das Museum für Wohnkultur (ein weiterer Ausstellungsort von Migrationsakten aus dem Staatsarchiv) lancierten eine gemeinsame Serie auf verschiedenen Social Media-Plattformen. Diese Erweiterung des offenen Lesesaals zum digitalen Lesesaal bewirkte – erst recht in Verbindung mit der zeitweile intensiven Berichterstattung in den Medien – zusätzlich ungezählte Blicke auf das Thema, die Ausstellung und das Archiv.
Vermittlung tut not
So offen und frei zugänglich der Pavillon im Innenhof des Staatsarchivs auch war, so rege er genutzt wurde: Dieses Versuchslabor hätte nie funktioniert, wenn da einfach (Reproduktionen von) Archivdossiers aufgelegen hätten. Die Ausstellungsmachenden (teamstratenwerth, Gabriel Heim und EMYL) boten zahlreiche Verständnishilfen und Vermittlungswerkzeuge, angefangen von Begriffserklärungen zu Aktentexten über Zusammenfassungen und Kommentare bis hin zu den grafischen Umsetzungen in Form von graphic novels durch das Illustratorenkollektiv Balsam. Archivgut ist nun mal nicht selbsterklärend, bedarf der Aufarbeitung, Erklärung. Der temporäre Lesesaal war sicher keine kostengünstige Variante des normalen Lesesalbetriebs, da steckte viel Aufwand und Vorbereitung dahinter. Um einen anderen Vergleich zu wagen: Auch wenn in ferner Zukunft einst sämtliche archivierten Unterlagen online einsehbar wären, würde damit noch wenig historisches Verständnis befördert. Dazu braucht es immer die kuratierende, erzählende Instanz der Publikationen, Ausstellungen, Lehrmittel, Games etc. Es lässt sich auch nicht verkennen, dass der Zugang zu Archivgut – trotz zunehmender audiovisueller Dokumentation – mit Lesen verbunden ist. Lektüre ist eine Grunderfahrung der Archivnutzung.
Für das Staatsarchiv war deshalb klar: Ergänzend zur Ausstellung im Pavillon brauchte es Formen der Vermittlung und des Austauschs. Schliesslich sollte die Ausstellung nicht nur Erkenntnisse zur Migrationsgeschichte liefern. Sondern auch verständlich machen, weshalb und in welcher Form solche Migrationsgeschichten überhaupt überliefert wurden. Dazu bot das Archiv einerseits wöchentliche Führungen an, im Rahmen derer auch Magazine und verwandte Aktenbestände gezeigt wurden. Die Teilnehmenden nutzten diese Gelegenheit rege, um vielfältige Fragen zum Archiv, zur Überlieferungsbildung, zu Digitalisierung etc. zu stellen. Aufwändiger aber auch erkenntnisreicher waren die drei Gesprächsabende im Staatsarchiv. Bekannte Persönlichkeiten und ausgewiesene Fachleute unterhielten sich über das Schreiben von Literatur und Geschichte, über den Interessenkonflikt zwischen historischer Aufarbeitung und Schutz der Betroffenen, über Erfahrungen von Fremdheit und Heimat. Das anwesende Publikum brachte sich engagiert ein mit Fragen, die zugleich fachlichem Interesse wie wacher persönlicher Neugier entsprangen. Auch hier zeigte sich, dass personale Vermittlung ein zentraler Moment ist und sicher auch bleiben wird.
Was bleibt
Das Versuchslabor «Ausstellungspavillon / temporärer Lesesaal» ist aus dem Innenhof des Staatsarchivs verschwunden. Das Staatsarchiv ist um eine interessante und lehrreiche Erfahrung reicher. Gerade im Hinblick auf den geplanten Neubau. Dort werden die Möglichkeiten, aber auch die Herausforderungen von Vermittlung ganz andere sein als im bisherigen Altbau. Einen temporären Lesesaal wird es im Neubau nicht geben, denn dessen Vorzüge sollen in den Normalbetrieb integriert werden. Das heisst: Es wird in Ergänzung zur traditionellen Recherche und Lektüre auch Forme und Räume niederschwelliger Vermittlung geben.
Was bleibt, sind auch die Ausstellungsinhalte selbst, die reproduzierten und digitalisierten Dossiers, die visualisierten Migrationsgeschichten. Sie werden archiviert und stehen als Bibliotheksgut wie als Unterrichtseinheiten künftig zur Verfügung.
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