Historikerinnen und Historiker haben alle einen Traum: Neuland zu entdecken, einen Aktenbestand zu finden, der bisher noch kaum erforscht ist. Da sind sie beim Staatsarchiv Basel-Stadt an der richtigen Adresse. Denn die Hunderttausenden von Fremdenpolizeidossiers, die hier lagern, wurden von der Forschung in den letzten Jahrzehnten erst ansatzweise bearbeitet. Der folgende Beitrag von Hermann Wichers, Leiter Benutzung im Staatsarchiv, schildert die Hintergründe.
Im Archiv, aber gesperrt
Im Jahr 1974 begannen die Einwohnerdienste des Kantons Basel-Stadt erstmals mit der Ablieferung nicht mehr benötigter Personen- und Sachdossiers der Fremdenpolizei, welche seit den frühen 1930er-Jahren über Ausländerinnen und Ausländer angelegt worden waren. Leider fehlen zahlreiche, vor allem ältere Dossiers aus den 1930er-Jahren. Einzelne Dossiers wurden auch in die sogenannten Administrativakten des Polizeidepartementes (PD-REG 1a) eingeordnet und sind dort zu finden. Dies betrifft Fälle von Ausweisungen oder die Prüfung von Einbürgerungsgesuchen.
Pionierforschung
Zunächst war der Zugang zu den Unterlagen auf Verlangen der abliefernden Behörde vollständig gesperrt. Im Jahre 1991 wurde dies gelockert, die Verantwortung für eine Einsichtnahme wurde dem Staatsarchiv unterstellt. Anlass war das Einsichtsgesuch von Jean-Claude Wacker für seine Lizentiatsarbeit über die Flüchtlingspolitik des Kantons Basel-Stadt in den Jahren 1933-1945. Dieses Forschungsinteresse entsprang einem Archivseminar am Historischen Seminar der Universität zum Thema „Basel im Zweiten Weltkrieg“ im Wintersemester 1988/89, unter der Leitung von Markus Mattmüller, Andreas Staehelin und Jakob Tanner. Neben den Fremdenpolizeidossiers konnte Wacker erstmals auch die korrespondierende Serie der Einwohnerkontrolle zu Ausländerinnen und Ausländern konsultieren. Hier finden sich auch alle Kontrollkarten der Personen, deren Dossiers vernichtet wurden.
Wenig Resonanz
Die Untersuchung Wackers erschien 1992 und stiess als erste Studie zur Flüchtlingspolitik eines Kantons auf grosse Resonanz. Sie bildete auch einen Input für den 1999 im Zuge der Arbeiten der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) präsentierten Bericht „Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus“. Zudem inspirierte er zahlreiche weitere kantonale Untersuchungen zur jeweiligen Flüchtlingspolitik (zum Beispiel Schaffhausen und St. Gallen). Hier zeigte sich, dass in vielen anderen Kantonen der Schweiz die Personendossiers der Fremdenpolizei nicht mehr vorhanden sind. Umso mehr erstaunt, dass der – von der Überlieferungsdichte und Fallmenge her einzigartige – Basler Aktenbestand noch viele Jahre von der Forschung wenig bis gar nicht beachtet wurde. Dies hing sicher auch mit der lange inexistenten Erschliessung der Unterlagen zusammen, die so praktisch kaum zugänglich waren. Auffällig ist dies zum Beispiel bei den diversen Forschungsbeiträgen zur Bürgerrechtspraxis in Basel: Sie beschränkten sich in der Regel auf die Analyse von Einbürgerungsakten und griffen (für die Zeit nach 1930) nicht auf die Unterlagen der Fremdenpolizei zurück. Dort sind im Einzelfall jedoch oft mehr Informationen dazu enthalten, weshalb ein Einbürgerungsgesuch abgelehnt oder angenommen wurde, unter anderem auch aus dem Zuständigkeitsbereich der Politischen Polizei. Interessanterweise wurden von der Forschung andere Quellenbestände wie die medizinischen Gutachten der Psychiatrischen Poliklinik über Bürgerrechtsbewerber intensiver herangezogen.
Umschwung nach 2010
Um das Jahr 2010 herum begann eine vermehrte Nutzung der Unterlagen der Fremdenpolizei. Messbar wurde dies auch dank der Umstellung auf die elektronische Verwaltung der Ausleihen: Seit 2012 wurden insgesamt 1846 Verzeichnungseinheiten („Dossiers“) bestellt, direkt von Forschenden in den Lesesaal oder von Archivmitarbeitenden im Zuge von Auftragsrecherchen respektive Anfragen. 85 Benutzende bestellten seither Unterlagen der Fremdenpolizei. Jede Bestellung führte zur Erschliessung von Dossiers, die damit im Online-Archivkatalog sichtbar wurden (sofern die personenbezogenen Schutzfristen abgelaufen sind). Die neu sichtbaren Dossiers stiessen auf deutliches Interesse und wurden in der Folge rasch von weiteren Benutzenden bestellt. Das Ausstellungsprojekt Magnet Basel brachte umfangreiche Recherchen mit sich (563 Verzeichniseinheiten). Daneben finden in letzter Zeit auch wiederholt Recherchen für Dissertationen oder Masterarbeiten statt: zum Beispiel zur Migrationspolitik betreffend Zuwanderung aus Italien, zur polizeilichen Überwachung sogenannt staatsfeindlicher Umtriebe während des Kalten Krieges, Recherchen für eine Dauerausstellung in der Gedenkstätte Riehen, journalistische Beiträge zur Thematik Flucht/Flüchtlinge im Grenzgebiet in der Badischen Zeitung oder eine Arbeit über elsässische Deserteure während des Zweiten Weltkrieges.
Potenzial für Entdeckungen
Bisher konzentrierte sich die Auswertung auf Personendossiers, während die zahlreichen Sachdossiers weniger nachgefragt wurden. Dass sich hier noch neue Quellen finden lassen, zeigt beispielhaft ein Dossier über die Basler Messe von 1948-1981, welches bisher unbekannt war.
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