Flugblatt, undatiert. Staatsarchiv Basel-Stadt, Politisches JJ 9, S. 23
Eine Erzählung von Vanessa Müller und Laura Zugno, entstanden 2018 im interdisziplinären Projekt „Krieg und Krise in Basel“ der Klasse 2MS (Geschichte und Deutsch) im Gymnasium Muttenz. Als Ausgangsmaterial und Inspiration dienten Archivquellen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt.
Ilse
Wir arbeiten wie am Fliessband. Diese Redewendung ist Realität für mich und die anderen Frauen hier. Erschöpft massiere ich meine Finger nach neun Stunden anstrengender Arbeit. „Kommst du, Ilse?“, ruft Martha mir zu. „Ja, ich bin sofort bei dir.“ Ich schlüpfe aus meinem Arbeitskittel, der mit Löchern versehen ist, in meinen braunen Mantel. Martha hält mir bereits die Tür auf und kühle Abendluft streicht über unsere verschwitzten Gesichter. Stillschweigend schlendern wir über die Strasse. Ich sehne mich bereits nach meinem Bett und den tröstenden Armen meines Mannes. Die letzten Wochen waren sehr hart für mich und meine Arbeitskolleginnen. Wir wurden ständig ermahnt, ja keine Pausen einzulegen, und die kleinsten Fehler bei der Beschreibung der zu produzierenden Verpackungen führten zu Lohnabzügen. Auch die Mindestanzahl an hergestellten Verpackungen musste erreicht werden, und dies mit viel Sorgfalt.
Gedankenversunken registriere ich erst in letzter Sekunde, wie sich Martha von mir verabschiedet und um die Ecke verschwindet. Meine Augen sind ihr bis dorthin gefolgt und plötzlich erfassen sie ein Plakat an der dortigen Hauswand. Mein Interesse ist geweckt. In wenigen Schritten stehe ich davor. „MÄNNER, DENKT AN DIE ZUKUNFT“, lese ich laut vor und kann meinen Augen fast nicht trauen. Eine Frau, die politisch engagiert wirkt, ist abgebildet, umgeben von anderen Frauen. Abseits steht ein Mann mit einem Kinderwagen. Die Botschaft ist eindeutig: Wir Frauen sollten nicht in der Politik mitbestimmen dürfen, ansonsten sähen sich die Männer gezwungen, sich um die Kinder zu kümmern und die Frauenrolle zu übernehmen. Diese Gegenkampagne bedeutet, dass bereits für Frauenrechte gekämpft oder diese zumindest gefordert werden. Noch nie zuvor habe ich mir auch nur ansatzweise Gedanken über meine Rolle als Frau in dieser Gesellschaft gemacht. Die Vorstellung, mehr Rechte und somit mehr Freiheiten zu haben, kommt mir plötzlich sehr verlockend und gleichzeitig sehr beängstigend vor. Ich schmunzle über meine eigenen Überlegungen, die so gar nicht mit der Absicht dieses Plakates übereinstimmen.
Ich schliesse die Haustür auf, gehe in die Küche und fange an Zwiebeln zu schneiden. Ich gebe Öl und Zwiebeln in die Pfanne und lasse es kurz anbraten, während ich die Kartoffeln raffle. Ein Blick in den Kühlschrank genügt, um erneut festzustellen, dass unsere Vorräte fast aufgebraucht sind. Es gibt nur Kartoffeln, ein wenig Gemüse und das Fleisch fällt gänzlich weg. Denn auf dem Markt werden Würste und andere Fleischprodukte nur zu sehr hohen Preisen angeboten. Unsere finanziellen Mittel reichen für Sonderwünsche schlichtweg nicht aus.
Das altbekannte Knarzen unserer Tür ertönt und kündigt das Eintreten meines Mannes an. Ich begrüsse ihn mit einem herzlichen Kuss auf die Wange. „Was wirst du mir heute Schönes auf den Tisch zaubern?“, fragt mich Karl mit einer Selbstverständlichkeit, an die ich gewöhnt bin. Mit schwerem Herzen denke ich an die fehlende Kalbsbratwurst und antworte in einem entschuldigenden Ton: „Leider wieder nur Rösti, ohne deine geliebte Kalbsbratwurst. Du weisst ja, wie das ist, Ende Monat bleibt nichts mehr übrig.“
Das Kratzen des Bestecks über den Teller durchbricht die Stille während des Abendessens. „Wie war dein Tag heute?“, erkundigt sich Karl. „Das Übliche, aber heute habe ich eine interessante Entdeckung gemacht.“ Er zieht eine Augenbraue hoch: „Was denn?“ Ohne über seine mögliche Reaktion nachzudenken, setze ich bereits zur Antwort an: „Es war ein Plakat, das sich gegen das Frauenstimmrecht äusserte. Was hältst du davon?“
Karl
Mein Gelächter erfüllt den Raum und schallt von den Wänden wieder. „Mach dir keine Gedanken darüber, Schätzchen, dieses Feld ist viel zu weit für dich. Dein hübsches Köpfchen sollte nicht versuchen, sich solche Themen begreiflich zu machen. Das bereitet dir nur Kopfschmerzen. Ausserdem verstehst du sowieso nichts von Politik und den Angelegenheiten, mit denen wir Männer uns auseinandersetzen müssen. Ich hoffe, dass du dir diese Sache aus dem Kopf schlägst“, beende ich meinen Monolog. Ich sehe ihr an, dass sie nicht zufrieden ist mit meiner Stellungnahme. Frauen können ganz schön kompliziert sein und diese komplizierten Geschöpfe möchte die Gesellschaft in die Politik lassen. Das kann ja nur schiefgehen.
„Ja, du hast sicherlich Recht. Wir Frauen sind unfähiger als ihr Männer und verstehen folglich nichts von Politik. Ansonsten hätte euch Gott nicht mehr Kraft gegeben als uns.“ Mit diesen Worten zeigt sich Ilse gewillt, meiner Aufforderung nachzugehen und das Thema auf sich beruhen zu lassen. Ilse kümmert sich nach dem Abendessen um den Abwasch und lässt mir somit den nötigen Freiraum, um mich in Ruhe meiner Zeitung zu widmen. Aufgrund der bevorstehenden Regierungs- und Grossratswahlen sind auch die Schlagzeilen den Wahlen entsprechend betitelt. Auf jeder Seite wird eine andere Partei angepriesen und die Vorzüge daraus werden hervorgehoben. Die sozialdemokratische Partei will dem Kapitalismus entfliehen und die wohlhabende Bevölkerung der Stadt zur finanziellen Unterstützung der Minderbemittelten aufrufen. Die Befürworter des Kapitalismus hingegen schieben die Schuld des Elends auf die Arbeiterschaft, indem sie auf die fehlende Motivation und die nicht erbrachte Leistung der Arbeiter verweisen. Diese seien die Ursache für das Elend und die daraus resultierende Exmission der ärmeren Bevölkerung. Mit keinem Wort wird etwas über Frauen und ihre Rechte erwähnt. Trotzdem kann ich meine Gedanken dazu nicht ausblenden und meinen Kopf nicht davon frei kriegen.
Nach dem Abwasch kommt Ilse mit einem Glas Cognac aus der Küche und stellt es vor mir auf den Tisch. Sie sieht mir an, dass mich etwas beschäftigt, und hakt nach: „Ist alles in Ordnung, Liebling?“ Die Worte sprudeln wie ein Wasserfall aus mir heraus: „Mir war gar nicht bewusst, dass überhaupt über dieses Thema gesprochen wird. Ich halte es für selbstverständlich, dass die Männer den Frauen überlegen sind und Frauen deswegen auch nichts in der Politik zu suchen haben. Logischerweise sollten sie also auch in anderen Bereichen unterlegen sein und nicht das gleiche Recht geniessen dürfen wie wir Männer. Ich verstehe nicht, weshalb die Gesellschaftsnormen verändert werden sollen, wenn sie doch so funktionieren.“
Ilse wirkt überrascht und gleichzeitig bemerke ich ihren unterdrückten Ärger, aufgrund ihrer plötzlich verkrampften Hände. „Ich dachte, du möchtest nicht mit mir darüber reden? Schliesslich hast du ja gerade zum Ausdruck gebracht, was du von Frauen hältst“, ein verbitterter Zug legt sich um ihre Mundwinkel, „weshalb bist du gegen die Gleichberechtigung der Frauen bei Abstimmungen? Schlussendlich betreffen die Folgen einer Abstimmung beide Geschlechter gleichermassen.“
Schon seit meiner Kindheit wurde ich in dem Glauben erzogen, dass wir Männer dazu bestimmt seien, die Stärkeren zu sein. Unsere physische Überlegenheit rechtfertige zwingend auch unsere Dominanz in allen politischen Fragen. Frauen seien dazu verpflichtet, für das Wohl des Mannes und der Kinder zu sorgen. Bin ich zu hart mit Ilse umgegangen? Sollten wir Männer uns nicht auch die Frage stellen, ob unser Handeln wirklich gerechtfertigt ist und uns nicht nur auf die Lehren unserer Vorfahren stützen? Befinden wir uns tatsächlich in einem Wandel der Gesellschaft und der Ordnung? Oder spielt sich der ganze Wandel in meinem Inneren ab und lässt die Aussenwelt unberührt?
Ein Rütteln an der Schulter lässt mich aufblicken und unterbricht meinen Gedankenfluss. Ilses Hände umfassen mein Gesicht und schon lange war ihr Ärger einer Besorgnis gewichen. „Bin ich zu weit gegangen? Verzeih mir, falls ich dich verletzt oder zornig gemacht habe. Ich sollte meine Worte mit mehr Bedacht wählen.“ Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn und nimmt meine Hände. „Keine Sorge, du hast nichts dergleichen getan. Im Gegenteil, ich bin froh dich zu haben. Du öffnest mir neue Wege, die Welt zu betrachten und darüber nachzudenken.“ Mit diesen Worten stehe ich auf und küsse sie. Zum Glück begreift sie, dass ich für heute nicht weiter darüber diskutieren möchte und dass wir die Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen können und werden.
Ilse
Sonntag ist der einzige Tag, an dem ich nicht arbeiten muss. Ich gehöre zu den wenigen Glücklichen, die wenigstens einen freien Tag haben, und habe auch keine Kinder, auf die ich aufpassen muss. Der sonntäglichen Routine folgend, frühstücke ich und packe anschliessend meine Körbe und Taschen, um auf den Marktplatz zu gehen. Dort sehe ich einen Wursthändler und widerstehe dem Drang, die ersehnten Würste zu kaufen. Innerhalb einer Stunde sind meine Körbe und Taschen mit Lebensmitteln gefüllt und mein Geldbeutel ist leer.
20 Minuten später tritt gerade ein Polizist aus der Tür, gefolgt von meinen beiden Nachbarn und ihren Kindern. Ich habe meine Hand bereits auf der Klinke, beschliesse aber noch nicht einzutreten. Meine Nachbarin Hertha hat bisher jede Woche einen Spaziergang mit mir unternommen. Diese Spaziergänge im Wald bieten eine gute Abwechslung zum Alltag und gleichzeitig habe ich dadurch eine wertvolle Freundin in ihr gefunden. Hertha ist sehr liebenswert und versucht in jeder Situation positiv zu denken und daraus zu lernen. Doch ihre Tränensäcke sind jetzt geschwollen und ihr ganzes Gesicht wirkt blass und eingefallen. Am Strassenrand vor unserem gemeinsamen Wohnblock sind etliche Müllsäcke deponiert worden. Bei näherem Hinsehen sind Kleidung, Decken, Küchenutensilien und andere Gegenstände aus Herthas Wohnung zu sehen. Meine Haare stehen mir plötzlich zu Berge. Erschrocken renne ich Hertha entgegen, die mir schluchzend in die Arme fällt. „Sie haben uns rausgeworfen, RAUSGEWORFEN, hörst du?“, schreit sie mir fast ins Ohr. „Exmission?“, vergewissere ich mich schockiert. „Ja, jetzt sind selbst wir dran“, murmelt Hertha und scheint keinen Ausweg zu sehen.
Ich habe gewusst, dass wir nicht die Einzigen sind, die nur knapp über die Runden kommen. Doch niemals hätte ich gedacht, dass die Exmission eine drohende Gefahr sein könnte für uns und unsere Freunde. Karl hatte mir vor ein paar Monaten erzählt, dass die Armen aus ihren Wohnungen geworfen werden, weil sie nicht mehr für ihre Miete aufkommen können. Ich hielt die Exmission damals eher für einen Mythos und habe meinen Mann diesbezüglich nicht wirklich ernst genommen. Doch jetzt scheinen immer mehr Menschen davon betroffen zu sein und die Armut verschlimmert sich immer mehr. Selbst diejenigen, die sich knapp über Wasser halten konnten, müssen sich vor der Exmission und der völligen Verelendung fürchten.
„Könnt ihr irgendwo hin? Kennt ihr jemanden, bei dem ihr unterkommen könnt?“, erkundige ich mich betroffen bei ihr. Nach längerem Überlegen teilt sie mir mit: „Wahrscheinlich werden wir bei meiner Schwester Platz finden. Ihr Mann und sie haben gesagt, dass wir immer zu ihnen kommen dürfen. Es wird sehr eng, aber wenigstens haben wir ein Dach über den Kopf.“ Ich unterhalte mich noch kurz mit ihr über ihre Aussichten auf eine neue Wohnung und verspreche ihr, dass sie immer bei mir willkommen ist. Auch wenn Hertha nun bei ihrer Schwester leben wird, hege ich die Hoffnung, dass wir unsere Spaziergänge fortsetzen werden. Unsere Freundschaft sollte nicht unter Herthas Schicksal leiden. Meine Körbe und Taschen stehen immer noch vor der Haustür. Mit meinem Fuss stosse ich die Tür auf und versuche gleichzeitig die Lebensmittel in meinen Armen nicht fallen zu lassen.
Karl
„Du gleichst einer Seiltänzerin mit deiner unschlagbaren Balance“, lache ich bei Ilses Anblick. Gespielt wütend stampft sie in die Küche und versorgt alles an seinen Platz. Sie fängt bereits mit der Zubereitung des Mittagessens an. „Heute ist Günter nicht zur Arbeit gekommen“, berichte ich. Günter ist mein bester Freund und mein langjähriger Arbeitskollege in der Chemieindustrie Basel. Durch diese Arbeitsstelle lernten wir uns bereits vor 10 Jahren kennen. Seitdem sind wir unzertrennlich und erzählen uns alles.
„Weshalb?“, wundert sich Ilse, „er ist doch sonst so ambitioniert, wenn es um seine Arbeit geht. Ist er krank?“ „Nein, eben nicht. Gestern war er auf jeden Fall gesund. Aber seit ein paar Wochen benimmt er sich merkwürdig. Er redet davon, dem Oltener Aktionskomitee beigetreten zu sein und gegen unsere Arbeitsstundenanzahl zu protestieren. Wir seien Sklaven dieses kapitalistischen Systems und so weiter“, seufze ich. Wieso wollen plötzlich alle etwas verändern? Weshalb können wir unsere gesellschaftlichen Regelungen nicht einfach akzeptieren? Fühle ich mich wohl in meinem jetzigen Leben oder sehne ich mich auch nach Veränderungen?
„Kann es sein, dass er absichtlich nicht bei der Arbeit erschienen ist? Vielleicht möchte er damit etwas bewirken, aber was?“, will Ilse wissen. „Das weiss ich nicht, mein Schatz. Aber ich werde morgen ein paar Arbeitskollegen fragen oder ihn persönlich, falls er wieder anwesend sein wird“, bemerke ich. Ilse nickt und fängt an, über ihre heutigen Erlebnisse zu berichten: „Gerade vorher sind Hertha und ihre Familie aus der Wohnung geworfen worden. Die Polizei hat sie dazu gezwungen. Du hast mir ja davon erzählt, dass die Armen zur Exmission gezwungen würden. Müssen wir jetzt Angst haben?“, mit diesen Worten schmiegt sie sich an mich und beginnt zu schluchzen. Beruhigend streichle ich ihr über den Rücken und wische ihre Tränen fort. Sollten wir uns Sorgen machen? Ich versuche meine Gedanken zu strukturieren und meine Worte mit Bedacht zu wählen: „Ich denke nicht, dass wir uns im Moment Sorgen machen müssen. Hertha und ihr Mann verdienen zwar beide etwa so viel wie wir, aber sie müssen zusätzlich noch ihre Kinder versorgen. Deswegen wurden sie ja auch exmissioniert. Es ist sehr schockierend, ja. Aber das Risiko ist bei uns minim.“ Ilses Tränenfluss lässt allmählich nach und wir umarmen uns.
„Günter, du bist wieder da!“, rufe ich ihm einen Tag später zu. Er stand rauchend, mit seinem Rücken zu mir, am Eingang und dreht sich jetzt zu mir um. „Bin ich froh dich zu sehen, Karl“, gesteht mir Günter, „in letzter Zeit habe ich dir viel zu wenig erzählt. Lass uns das während der Arbeit nachholen“. Er klopft mir auf die Schulter und gemeinsam treten wir ein, umgeben von stickiger Luft und beissenden Dämpfen. Anfangs können wir uns nicht unterhalten, da wir an verschiedenen Arbeitsplätzen tätig sind. Doch in der Mittagspause setzen wir uns zusammen. „Also, erzähl mir, was passiert ist. Weshalb bist du gestern nicht zur Arbeit erschienen?“, erkundige ich mich. „Ich habe gestreikt, zusammen mit ein paar Freunden aus anderen Industriebranchen“, vertraut mir Günter an. „Gestreikt? Weswegen?“, frage ich nach, obwohl ich mir schon vorstellen kann weshalb. „Hast du mir überhaupt zugehört in den letzten Wochen? Wie gesagt, kämpfen wir im Oltener Komitee dafür, unsere wöchentliche Arbeitszeit zu reduzieren. Wir Arbeiter sollten zusammenhalten und gemeinsam für weniger Arbeitsstunden mit fairem Lohn kämpfen. Du solltest auch mal bei einer Veranstaltung des Komitees vorbeischauen. Begleite mich doch! Es wird dir sicher gefallen!“, versucht Günter mich zu begeistern. Das Ganze kommt sehr abrupt und ich fühle mich überrumpelt von seinen Vorschlägen. Vorerst reagiere ich recht unschlüssig: „Ich werde mir noch überlegen, ob das etwas für mich wäre. Ich gebe dir in den nächsten Tagen Bescheid.“
Der Vorgesetzte signalisiert uns das Ende der Mittagspause. Wir setzen unsere Arbeit fort und kümmern uns darum, Farbe herzustellen inmitten von aufsteigenden Dämpfen. Ich muss unwillkürlich daran denken, dass sich die Farbproduktion in den letzten Monaten stark intensiviert hat. Denn seit wir uns im Krieg befinden, werden immer mehr Farben für die Militäruniformen benötigt. Ich habe während der Arbeit reichlich Zeit, über Günters Worte nachzudenken. Arbeiten wir zu viel oder sind gewisse Arbeiter einfach zu faul? Ich bin jeden Tag müde nach der Arbeit und habe lediglich Zeit, nach Hause zu kommen und von Ilse gefüttert zu werden. Am nächsten Tag muss ich bereits in aller Frühe auf den Beinen sein. Mein Vater hat mir aber immer gesagt, dass nur wer sich wirklich abrackert, in den Himmel kommt. Denn Gottes Liebe wird einem nicht grundlos zuteil, dafür müssen wir Opfer erbringen.
Auf dem Nachhauseweg sehe ich ein paar Flugblätter, die dazu aufrufen, dem Oltener Komitee beizutreten und für die Freiheit der Arbeiterschaft zu kämpfen, einschliesslich dem Frauenrecht und anderen Forderungen. Ein Mann ist gerade dabei, die Flugblätter an alle Hauswände zu kleben und den Leuten eines mitzugeben. Er drückt mir im Vorbeigehen einen Stoss Flugblätter in die Hand mit den Worten: „Willst du für immer in deiner unterdrückten Situation als Arbeitnehmer bleiben? Oder möchtest du für dich und deine Rechte einstehen?“ Ich halte an und verlange mehr über das Oltener Komitee zu erfahren. Bereitwillig erzählt mir der junge Mann: „Wir engagieren uns für die Rechte der Frauen, die Etablierung der AHV, die Reduktion der wöchentlichen Arbeitsstunden und noch vieles mehr. Wir möchten, dass sich die Menschen bewusst werden, in welcher benachteiligten Lage sie sich befinden im Vergleich zu höheren Schichten und den Arbeitgebern. Auch die Frauen sind benachteiligt und haben das Recht, politisch mitzubestimmen.“
Mit einem Mal wird mir die Verbindung zwischen den Worten meiner Frau und Günter bewusst. Beide wollen für mehr Freiheit und Rechte kämpfen und haben mir kleine Anstösse dazu gegeben, mich in diese Richtung zu bewegen und somit endlich dem Strom entgegenzuschwimmen. Auf den ersten Blick erschienen ihre Wünsche und Forderungen sehr unterschiedlich, doch das Oltener Komitee ist das perfekte Beispiel für die Vereinigung dieser Interessen. Ich sollte mit Ilse darüber reden und eine Entscheidung fällen.
Ilse
„Verflucht!“, schimpfe ich bei der Berührung der heissen Herdplatte. Ich drehe den Wasserhahn auf und kaltes Wasser strömt über meinen verbrannten Finger. Plötzlich fasst mich jemand von hinten an und ich ramme meinen Ellbogen reflexartig in den Bauch von Karl. „AUA!“, flucht Karl entrüstet, „ich wollte dich bloss überraschen. Kein Grund gewalttätig zu werden.“ Lachend drehe ich mich um und küsse ihn. Dabei fällt mir Günter ein: „Und? Hast du heute Günter gesehen?“ Karl gibt mir nochmals einen Kuss auf die Stirn und nickt: „Ja, er ist wieder da. Er hat absichtlich gefehlt, um ein Denkmal zu setzen. Er hat gestreikt.“ „Wegen der Reduktion der Arbeitsstunden? Das wäre ja plausibel“, mutmasse ich. „Ja, mein Schatz. Du hast es erfasst. Aber lass uns doch zuerst essen.“
Nach dem Abendessen sehe ich Karl erwartungsvoll an: „Hat dir das Essen geschmeckt? Ich konnte eine Kalbsbratwurst zu einem tiefen Preis ergattern. Eine Arbeitskollegin hat mir die Wurst verkauft, da sie sich verzählt hat beim Einkauf.“ Karl rülpst und antwortet mit einem zufriedenen Lächeln: „Es war köstlich. Ich bin froh, wieder mal eine Kalbsbratwurst geniessen zu dürfen. Aber das Köstlichste, das bist immer noch du.“ Er zwinkert mir verführerisch zu und ich schlage ihm lachend auf den Arm. „Nicht jetzt, Karl. Du hast mir doch versprochen, das Geheimnis von Günters Fernbleiben aufzudecken“, rufe ich ihm in Erinnerung. „Lass uns doch auf das Sofa sitzen, dann erzähle ich dir alles“, schlägt er vor.
Ich setze mich neben ihn hin und schmiege mich in seine Umarmung, während er anfängt zu erzählen: „Günter kämpft gemeinsam mit Freunden und dem ganzen Oltener Komitee für die Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit. Deswegen hat er gestern gestreikt und mich heute aufgefordert, mit ihm eine Veranstaltung des Komitees zu besuchen. Ich konnte mich bisher noch nicht dazu entschliessen, dorthin zu gehen.“ Er blickt mir in die Augen und fragt mich ohne Worte nach meiner Meinung. In meinem Inneren freue ich mich. Er hält grosse Stücke auf meine Meinung! Meine Ansicht dazu ist kristallklar: „Du solltest unbedingt hingehen, das wäre die Chance für dich, Veränderungen zu bewirken. Du hättest mit weniger Arbeitsstunden mehr Freizeit, mehr Zeit für mich und könntest auch mehr Schlaf finden. Auch wenn du die Ideen oder die Menschen an dieser Veranstaltung nicht alle sympathisch finden wirst, wirst du viele Dinge mit anderen Augen sehen oder zumindest kritisch betrachten.“ Karls Augen sind voller Wärme und mit sanfter Stimme flüstert er: „Freut mich, dass deine Meinung feststeht. Beim Oltener Komitee wird ausserdem für das Frauenstimmrecht gekämpft, was dich sicherlich erfreuen dürfte. Ich werde versuchen, auch für deine Wünsche zu kämpfen und dich in deinen Ideen zu bestärken. Du hast meine volle Unterstützung und ich offenbar auch Deine.“
Karl
Günter winkt mir zu und gibt das Zeichen, ihm ins Innere des Gebäudes zu folgen. Mit schnellen Schritten erreiche ich den Eingang und atme noch einmal tief durch. Meine Augen müssen sich erst an das schummrige Licht gewöhnen. Ein junger Mann spricht energisch zu seinen Zuhörern: „Wollen wir nicht alle gleich behandelt werden? Ist es nicht schlichtweg pure Gerechtigkeit, für unsere Rechte einzustehen? Sollten wir nicht alle ein angemessenes Arbeitspensum haben? Wie sieht es mit den Frauen aus? Weshalb sollten sie nicht über ihre Zukunft bestimmen dürfen?“
Alle meine Bedenken sind fort. Mein Herz und mein Kopf sind sich einig: Hier werde ich in Zukunft für mich und meine Mitmenschen einstehen und den Frauen und der Arbeiterschaft ihre wohlverdiente Freiheit erkämpfen.
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