Liebe Grüsse aus Moskau – 3

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Allgemein, Anlässe

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Emil Speiser ist 1893 als Fabrikarbeiter nach Moskau gekommen. Was er da erlebt, beschreibt er seinen Eltern und Geschwistern in Gelterkinden:

Moskau den 27 Feb. 1894

Ich könnte Euch viel erzählen, was sich in Briefen nicht erzählen lässt, da man doch keinen Begriff davon bekommen würde. Dennoch komme ich darauf Euch einige Andeutungen zu geben über das Leben der Russen in den letzten drei Feiertagen. Es werden diese Feiertage Maslenitza genannt, in der Zeit der Russe im Ueberflusse will gelebt haben, da es eben in diesen Tagen keine Sünde ist, etwas zu begangen haben, ausgenommen ein grosses Verbrechen. Ja da möchtet Ihr sehn, wie Thiere fressen sie die gebackenen Kuchen und saufen Schnapps und Bier, dass es ein Graus ist. Solches Männer wie Frauen; ein Treiben auf den Strassen und Vergnügungsorten, dass es einem zum Eckel wird. Ja, mir ist Heute sogar der Gedanken an Tells Knaben geworden, als er zu seinem Vater sagte: „Da wohn ich lieber unter den Lawinen.“ Zum Glück geht Morgen wieder die Arbeit los, wo es doch einem am wohlsten ist dabei. Denkt Euch jetzt dieser Unsinn von den Leuten; drei Tage in Saus und Braus leben und jetzt bis Ostern, also volle sieben Wochen fasten, d.h.kein Fleisch essen.

Konkurrenz

Was meine Geschäftssache anbelangt gibt dieselbe unglaublich viel Arbeit, besonders da ich jetzt in letzter Zeit dem Herrn Frei seine bis dahin besorgte Arbeit abgenommen. Er machte nämlich die Ombrezedel, das ist die Vorschrift zum Aufstecken derselben. Nun am Anfang kam es für mich auch schwierig u jetzt geht es ganz gut. So habe ich jetzt noch bis Ostern, wo wir dann volle 14 Tage feiern, noch recht im Sinn aufzupassen, um dann die Stelle des Russen zu übernehmen, von da an. Ich werde mit Herrn Wirz darüber sprechen, was er mit ja mir beantworten wird. Selbstverständlich ist es keine leichte Sache mit einem zu arbeiten, den man von seinem Posten treibt u gezwungen ist miteinander in die Hände zu schaffen. Doch Muth und vorwärts muss’s, muss man denken. Bereuen habe ichs schon manchmal müssen, nicht in die Bezirksschule gegangen zu sein, denn um so schwerer kommt jetzt einem die Sache an,und man muss bekennen, dass man gegen andere viel zu wenig Bildung hat.

Der Briefeschreiber

10 Jahre lang lebte und arbeitete Emil Speiser in Moskau, bevor er 1903 krankheitsbedingt in die Schweiz zurückkehren musste. 10 Jahre lang schrieb er an seine Eltern und Geschwister, berichtete aus dem Alltag in der Fremde, über das Fabrikleben und die russische Gesellschaft. Auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz und seinem Tod riss der Kontakt mit Moskau nicht ab. Witwe Mina Speiser erhielt weiterhin Briefe von ihren Freundinnen und Bekannten – bis zu den Novembertagen 1917.

Webstühle, Esskultur und Unruhen

Die Briefe im Staatsarchiv erzählen davon, wie es Zettelmeister Speiser in der Bandweberei Handschin & Wirz in Moskau erging; wie der Schweizer mit der russischen Kultur zurechtkam; was er und seine Bekannten von den zunehmenden Unruhen um 1900 miterlebten. Auszüge aus den Briefen werden hier im Blog anlässlich der Museumsnacht 2017, die im Staatsarchiv unter dem Motto „Moskau einfach?“ steht, in einer kleinen Serie veröffentlicht.