Liebe Grüsse aus Moskau – 4

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Vom ländlichen Gelterkinden ist Emil Speiser 1893 in die Grossstadt Moskau gezogen. Nun schreibt er an seinen Bruder Hermann zuhause:

Moskau, den 4. Juni 1894

Wie ich mit Deinen Zeilen vernommen, gefällt Dir das Stadtleben immer weniger in Sonderheit wegen der Luft in der freien Zeit, und auch weil man Dir das Versprochene nicht gibt. Ich kann Dir über Deine Sache nicht gut rathen und denke Du wirst selbst am besten sehn, was zu machen ist. Immerhin ist überal etwas und so hätte ich mich betreffs der schlechten Luft jedenfals noch mehr zu beklagen als Du. Da ja, wie Dir bekanntlich, Hier in unsrer Gegend viele Gerbereien sind, so wirst Du Dir ungefähr eine Vorstellung machen können was für ein Geruch sich ausbreitet, da die Abfälle von den Häuten so massenhaft liegen bleiben, weil Solche nicht so leicht wie bei Euch durch Wasser können vortgeschwemmt werden. Nun wenn man auch eine bessere Luft hätte, so könnte man nicht viel geniessen daran, weil wir eine sehr lange Arbeitszeit haben. Doch ich bin zufrieden dabei, da ich Gottlob gesund bin und mich nicht im Geringsten über etwas zu klagen Ursache habe. Auch von den Krampfadern habe ich bis dahin nichts gespürt.

Fabriken wie zuhause

Was mir jetzt das Leben angenehm macht, ist dass ich mit Gyger einen indimen Freund erhalten und so haben wir Beide noch jeden biss dahin verflossenen Sonn- u Festtage einen Ausflug gemacht irgend wohin. So auch gerade Gestern an Pfingsten und Heute Montag wirds wieder wo hinaus gehn. Nun da wir an Wochentagen zu arbeiten haben, wie Du Dir nicht vorstellst, so kann ich mich jetzt doch an Sonntagen ein wenig erfreuen. Nun ist bei uns die neue Fabrick in Angriff genomen und die Mauern sind zum Erdboden hinaus . Es gibt ein Gebäude von 11 Fenstern in der Frontlänge, so dass jetzt dann die einte Fabrik eine Länge erhalten wird, wie die von Sarasin in St. Ludwig.

Der Briefeschreiber

10 Jahre lang lebte und arbeitete Emil Speiser in Moskau, bevor er 1903 krankheitsbedingt in die Schweiz zurückkehren musste. 10 Jahre lang schrieb er an seine Eltern und Geschwister, berichtete aus dem Alltag in der Fremde, über das Fabrikleben und die russische Gesellschaft. Auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz und seinem Tod riss der Kontakt mit Moskau nicht ab. Witwe Mina Speiser erhielt weiterhin Briefe von ihren Freundinnen und Bekannten – bis zu den Novembertagen 1917.

Webstühle, Esskultur und Unruhen

Die Briefe im Staatsarchiv erzählen davon, wie es Zettelmeister Speiser in der Bandweberei Handschin & Wirz in Moskau erging; wie der Schweizer mit der russischen Kultur zurechtkam; was er und seine Bekannten von den zunehmenden Unruhen um 1900 miterlebten. Auszüge aus den Briefen werden hier im Blog anlässlich der Museumsnacht 2017, die im Staatsarchiv unter dem Motto „Moskau einfach?“ steht, in einer kleinen Serie veröffentlicht.