In den Akten der Basler Fremdenpolizei widerspiegeln sich Lebensgeschichten. Zum Beispiel jene des Schriftstellers Rainer Brambach. Der folgende Text, recherchiert und verfasst von Gabriel Heim, wurde am 8. März 2016 erstmals in der Reihe SPURENSUCHE im Philosophicum, Ackermannshof – Basel vorgetragen. Das Manuskript ist Eigentum des Autors, alle Rechte daran sind vorbehalten.
Vorgeschichte
Rainer Brambach ist der Sohn des Klavierstimmers Franz Philipp Brambach aus Rheinbach bei Bonn, der sich 1908 in Basel niedergelassen hatte. Seine Mutter war Schweizerin, eine gelernte Herrschaftsköchin. Durch ihre Heirat wurde sie Deutsche. Reinhard wächst im Sankt-Johann-Quartier auf und absolviert nach der Sekundarschule eine Flachmaler-Lehre. In den dreißiger Jahren unternimmt der 20-jährige Brambach ausgedehnte Wanderungen durch Deutschland, Österreich und Frankreich. Er bleibt Deutscher Staatsbürger, da seine Eltern – und auch er – sich nicht um eine Einbürgerung gekümmert hatten.
In den Akten der Basler Fremdenpolizei begegnen wir Reinhard Brambach zuallererst in einem Bericht der Allgemeinen Armenpflege Basel vom 28. November 1938: „Bei dem Obengenannten handelt es sich um einen wenig arbeitsfreudigen Menschen, der chronisch arbeitslos ist. Die eingezogenen Erkundigungen lauten immer schlecht. Sogar der alte Vater erklärte uns, dass er den missratenen Sohn nicht mehr bei sich haben könne. Schon in der Lehre zeigte er sich widerspenstig. Es fehlte ihm eben am guten Willen zur Arbeit. Seit langer Zeit liegt er dem alten Vater und dem rechtschaffenen Bruder (Baslerbürger) zur Last. Er führt das Leben eines Tunichtguts, der es ganz am Platze findet, wenn andere für ihn sorgen. Um eine Verschiebung des deutschen Militärdienstes zu erreichen, hat er dem Deutschen Konsulat erklärt, dass er seine alten Eltern unterstützen müsse, woran kein wahres Wort ist. Er bringt ganze Nächte bei seiner Geliebten zu und kommt erst morgens wieder nach Hause. Das Arbeitsamt erklärt, dass er zum Stempeln erst erscheine, wenn nichts mehr zu vergeben sei. Wir haben in der Angelegenheit mit dem Deutschen Konsulat Rücksprache genommen. Dort will man Sorge tragen, dass eine Einrückungsorder baldmöglichst erfolge. Da der junge Mann unserer Aufforderung kaum Folge leisten wird, stellen wir Antrag auf Entzug der Niederlassung und Ausweisung aus armenpolizeilichen Gründen.“
Am 2. Dezember 1938 verfügt das Polizeidepartement Basel-Stadt, dass Brambach Reinhard, niedergelassen seit Geburt, aus armenpolizeilichen Gründen auf unbestimmte Zeit aus dem Gebiet der Schweiz ausgewiesen wird. Rainer Brambach zieht nach Stuttgart, wo er kurzfristig als Fabrikmaler arbeitet, bis er zum Arbeitsdienst in ein Arbeitslager bei Kehl eingezogen wird. Als er 1939 den Stellungsbefehl der Wehrmacht erhält, desertiert er. Seine Freundin Gredel bringt ihm Zivilkleider zu einem grenznahen Hotel. Von dort reisen sie unkontrolliert über den Badischen Bahnhof ein. Zwei Wochen lang hält sie ihn bei sich versteckt. Am 7. September 1939 wird er aufgegriffen.
Polizeibericht
„Schon öfters, und auch jetzt seit einigen Tagen wieder hier, hält Brambach sich bei seiner Liebsten, Margarethe Wettky, Petersgraben 22, Strumpfstopferin auf. Er wurde heute um 7 Uhr früh dem Lohnhof zugeführt. Antrag: 5 Tage Gefängnis. Fräulein Wettky ist mitverzeigt, weil sie den Brambach schon öfters, und auch jetzt wieder, bei sich aufnahm.“ Und handschriftlich wurde ergänzt: „Wird nach Verbüssung der Strafe an die franz. Grenze gestellt ( Pruntrutt ).“ Brambach schlägt sich nach Paris durch, wird wieder aufgegriffen, büchst erneut aus, um wieder in Basel aufzutauchen. Wo sollte er auch hin – Basel ist seine Heimat. Wieder wird er im Lohnhof eingesperrt, doch diesmal nicht um ihn auszuweisen. Am 21. Oktober erkennt die Polizeiabteilung in Bern: „Reinhard Brambach wird bis auf weiteres auf Kosten des Bundes in einer Strafanstalt interniert. Sign: Der Chef der Polizeiabteilung: Rothmund.“ Vier Tage darauf wird die Verfügung vollzogen: Strafanstalt Thorberg – noch heute gefürchtet.
24. Oktober 1939: „Mein liebes Gredel, Es ist nun schon der vierte Sonntag, den ich hinter Gittern verbringe, und ich habe die Hoffnung, es möge der letzte gewesen sein! Liebes Gredel, ich habe bereits keine Cigaretten mehr, ich habe sie verteilt, an solche die gar nichts hatten. Ausserdem dürfen wir nun jeden Tag eine Stunde im Hof spazieren gehen und rauchen. [….] Mein ganzes Handeln und Wollen ist zu urwüchsig mit der Freiheit verknüpft, als dass dies spurlos an mir vorübergehen würde. Ich hoffe, dass ich dich baldmöglichst sehen werde, denn ich habe dir einiges zu sagen und grüsse und küsse dich herzlichst, Dein Rainer.“
Sein Gredel setzt sich für ihn ein, spricht von seinen geistigen Interessen. „Wir brauchen keine Dichter, wir brauchen Männer, die zupacken!“ – kriegt sie zu hören – und insistiert – und wird beschieden: „Machen sie doch keine solchen Geschichten, wegen einem Schwob!“ Immerhin, Brambach wird Anfang 1940 in das Interniertenlager Lindenhof – Witzwil verlegt. Am 11. Februar schreibt er an seine Gredel: „Hier ist es sehr sauber und das Essen ist besser als in Thorberg. Dafür arbeite ich auch viel mehr und am Anfang war ich nahe am Umfallen. Witzwil ist riesig gross und ich arbeite draussen, sitze wie ein Affe auf den Bäumen und haue die Äste ab. Zivilkleider tragen kann man natürlich nicht, aber wir Internierten tragen jedoch andere Kleider wie die Strafgefangenen.“
Und im Mai: „Zum Teufel mit diesen Speckjägern und Kleinbürgern, diesen verkrüppelten Seelen. Mir war nie wohl in der Haut, weil ich instinktiv gefühlt habe, dass man mich trotz allem für einen Aussenseiter, einen aus einer ganz anderen Sphäre kommenden, gehalten hat. Wärst du Frau P., Frau Sch., Frau Professor B. oder wie die Knallköpfe alle heissen, so würdest du den Wert des Lebens nicht, oder nur zum Teil kennen. Genug darüber. Ich bin blutjung, 23 Jahre, bald werde ich ein Jahr Emigration hinter mir haben. Ich weiss viel und habe viel gesehen, zu viel für mein Alter, aber es ist gut so. Ein Jahr kann vieles über den Haufen werfen. Diesmal habe ich die Erde bebaut, wäre ich der gehorsame deutsche Junge geblieben, müsste ich heute die Erde zerstören. Rainer.“
Prekäre Verhältnisse
Am 7. Juni 1940 wird Rainer Brambach aus der Internierung entlassen. Schon eine Woche darauf erhält der Quartierschreiber vom Chef der Fremdenpolizei, Merz den Auftrag Erhebungen einzuholen: „Von was bestreitet Brambach gegenwärtig seinen Lebensunterhalt und wie stellt er sich für die Zukunft seine Existenzmöglichkeit vor?“ Der Quartierschreiber berichtet: „Da Brambach dem Müssiggang frönt, erteilte ich ihm den Rat, sich auf dem Arbeitsnachweisbüro zu melden. Einem Ausländer eine Stelle zu vermitteln ist natürlich mit Schwierigkeiten verbunden, da es sich höchstens um eine Beschäftigung bei einem Landwirt in der Umgebung handeln würde. Dieser kräftige Bursche wäre sicher, so der Stellenvermittler, auch weiterhin in Witzwil für Landarbeiten zu verwenden gewesen, statt seinem Bruder, der gegenwärtig im Aktivdienst steht, zur Last zu fallen. Seine Mutter war mit der Entlassung aus der Anstalt einverstanden, doch machte sie bei der Einvernahme darauf aufmerksam, dass er nicht aufrichtig sei und nie seinen Tagesaufenthalt angebe. Vielleicht komme er mit seiner Geliebten zusammen.“
Am 30. Januar 1941 erneut eine eingehende Erhebung über Führung und Existenzverhältnisse. „Er falle teilweise seinem Bruder Paul und teilweise seiner Verlobten zur Last, die für seinen Lebensunterhalt vorübergehend aufkomme. Ihr, die sich als Strumpfstopferin betätige, besorge er tagsüber Kommissionen und auch seiner Mutter besorge er Botengänge. Sollte er allerdings längere Zeit mit der Arbeit aussetzen müssen, dann wäre er, um seinen Angehörigen nicht mehr zur Last zu fallen, mit einer Einweisung in einen landwirtschaftlichen Betrieb sehr einverstanden.“ Die Hausbewohner, Johanniterstrasse 15 , Frau Kirchhofer-Giger und die Ehegatten Specht-Meier sowie Frau Hubler-Weissenberger bestätigen dem Detektiv Waldvogel: „Die Aufführung Brambachs habe in letzter Zeit zu Klagen keinen Anlass gegeben. Vergnügungen gehe er abends nicht nach.“ In einem Schreiben des Arbeitsamts an die Kantonale Fremdenpolizei vom 19. Mai 1943 lesen wir für Brambach die Bezeichnung: Deutscher Deserteur. Das ist der Hinweis darauf, dass ihm zwischenzeitlich die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen worden ist und er nun in seiner Geburtsstadt Basel den prekären Status eines „Tolerierten“ innehat und Kaution leisten muss. Diese bezahlt er – wann immer möglich – mit monatlichen Raten von 20.- Franken.
Im Herbst 1943 findet Brambach beim Gartenarchitekten Helmut Vivell, Holbeinstrasse 22, einen stabilen Arbeitsplatz (Stundenlohn 1.57). Brambach bleibt 4 Jahre bei Vivell in Arbeit. Am 5. Februar 1947 wendet sich Reinhard Brambach mit der Bitte um Genehmigung eines Stellenwechsels an das Arbeitsamt. „Mir wurde vom Geschäftsherrn des Graphischen Ateliers Rolf Rappaz, Aeschenvorstadt 25 ein Angebot gemacht, als Faktotum in das Geschäft einzutreten. Da ich damit meine soziale Stellung verbessern könnte und auch Arbeiten ausführen dürfte die mir sehr liegen, wäre ich ihnen zu grossem Dank verpflichtet, wenn Sie meinem Gesuch zum Stellenwechsel entsprechen würden.“ Der Basler Rolf Rappaz, stilprägender Graphiker und Fachlehrer an der Gewerbeschule, bietet Brambach die Chance als Texter und Schreiber zu arbeiten. In dieser Zeit entstehen Gedichte. Brambach verdient erstes Geld. Er heiratet seine Gredel. Nun stellt er den Antrag, die Verfügung seiner Landesverweisung aus dem Jahr 1938 sei aufzuheben. Darauf meldet sich die Fremdenpolizei erneut mit Erhebungen: „9. Dezember 1949. Die Ehegatten Brambach-Wettky bewohnen an der Sankt-Johanns-Vorstadt 23 eine Zwei-Zimmer-Wohnung zum monatlichen Mietpreis von Fr. 65.-. Der Gesuchsteller arbeitet als Texter mit einem derzeitigen Monatslohn von Fr. 400.-. Der Verdienst der Ehegattin, die sich als Kunststopferin auf eigene Rechnung betätigt, variiert zwischen Fr. 5o.-. und Fr. 250.-. wie dieselbe angibt. Vermögen oder Ersparnisse sind nicht vorhanden. Von der Hauseigentümerin und den Mietern wird Brambach übereinstimmend als ruhiger, rechtschaffener und solider Mann geschildert, der mit seiner Ehegattin in bestem Einvernehmen lebe. Mit den Kautionszahlungen ist er mit Fr. 200.- im Rückstand. Waldvogel, Detektiv-Korporal.“
Einbürgerung
Am 17. Dezember 1948 hebt der Vorsteher des Polizeidepartements die immer noch gültige Ausweisungsverfügung gegen ihn auf. Es wird weitere 25 Jahre dauern, bis Reinhard Brambach in Basel eingebürgert wird! Im ausführlichen Bericht zum Bürgerrechtsbewerber Brambach „begradigt“ das Polizeidepartement seinen Lebensweg. Der Entzug der Niederlassung „wegen Müssiggangs“, seine Inhaftierung in Thorberg, seine Internierung in Witzwil sowie die jahrelange Observierung sind keiner Erwähnung wert – wohl auch um einstige Beamtenwillkür zu vernebeln. Stattdessen heisst es nun kurz und knapp: „Infolge der damals bestehenden Arbeitslosigkeit musste der Bürgerrechtsanwärter 1939 nach Deutschland. Anlässlich des ersten Urlaubs setzte er sich nach Basel ab. In der Folge war Herr Brambach bis 1953 staatenlos.“ 1975, im Jahr seiner Einbürgerung ist Rainer Brambach ein, weitherum anerkannter und mehrfach preisgekrönter Lyriker. Diesen Umstand würdigt der Bericht ausführlich. „Im vorliegenden Fall lässt sich eine Einbürgerung bedenkenlos rechtfertigen. Herr Brambach, Reinhard ist hier geboren und hat praktisch sein ganzes Leben in Basel verbracht. Er besitzt das bei den Schweizern übliche Rechtsempfinden und die verbreitete demokratische Einstellung der hiesigen Bevölkerung. Bestimmt habe er sich in Basel vollständig assimiliert. Eine Einbürgerung von Herrn Brambach könne nur als Gewinn für die Stadt Basel gewertet werden.“
Rainer Brambach 1961. Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 2-155 1.
Das letzte Wort soll Rainer Brambach haben. Ein kleiner, vergessener Text, den er 1957 in der Monatszeitschrift DU unter dem Titel: Bericht an einen Leser meiner Gedichte veröffentlicht hat. Daraus ein Auszug: „Es ist den Baslern schwer, die Aeolsharfe der Dichtung gegen den Sturm der Zeit zu stellen. So ist es. In Basel wirkt ein mitleidloser Realismus. Das Pathos ist verpönt. Eine abgemessene, prüfende Weise herrscht überall vor. Aber ich verdanke vieles, fast alles, was ich bin und habe, dieser Stadt. Hier wurzelt meine Entwicklung, hier entstanden nach unsteten Wanderjahren die meisten Verse. Mein allererstes Gedicht aber schrieb ich im Gefängnis, in das ich gleich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges fälschlich eingelocht wurde. Dieses Poem hieß «Tod der Polente» oder so ähnlich und war nichts als ein Schnellportrait der Erbitterung gegen die Zeitumstände und gegen die Macht, die mich in eine finstere Gruft gebracht hatte. Aus. Der Vogelfreie in Ketten. Jenes Gedicht ist verschollen, jene Zeit auch. Aber damals begannen meine poetischen Versuche. Was für Kämpfe führte ich doch mit meinem bescheidenen Vokabular um die Sprache, um einige gültige Worte! Sie fragen mich, warum ich ausschliesslich Gedichte schreibe? Das Gedicht kann mit wenigen Worten Wirklichkeit hinstellen. Ich bin für das kurze Signal, für die knappe Metapher. Das Gedicht ist mir so nötig wie Brot, wie ein heiteres Auge, wie der widerspenstige Stein. Ich besitze es, ich bin von ihm besessen.“
Am 13. August 1983 verstirbt Rainer Brambach im 67 Altersjahr. Unterwegs von Riehen nach Basel in die Sankt Alban-Vorstadt ist er, vom Herzinfarkt tödlich getroffen, vom Velo gestürzt – ein Tod ohne Qualen.
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