Zur falschen Zeit am falschen Ort

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Archivpädagogik, Blogserie

Eine Erzählung von Larissa Hofer, entstanden 2018 im interdisziplinären Projekt „Krieg und Krise in Basel“ der Klasse 2MS (Geschichte und Deutsch) im Gymnasium Muttenz. Als Ausgangsmaterial und Inspiration dienten Archivquellen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt.

Schmerzerfüllte Schreie hallen durch die Strassen. Auf der Mittleren Brücke stehen einige Passanten mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. Die Menschenmasse bewegt sich in Richtung der Schreie. Niemand sagt ein Wort. Es herrscht fast schon Totenstille. Jeder weiss, was in den letzten Tagen in Basel vor sich ging. Polizeisirenen dringen durch die Stille. Von der Mittleren Brücke her kommt ein Automobil mit Polizisten. Die Menge teilt sich und löst sich schlussendlich auf. Die Polizisten haben den Auftrag erhalten, die Situation unter Kontrolle zu halten.

Sie bringen die Verwundeten zum Claraplatz. Darunter ist ein junger Mann, welcher zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein scheint. Er spürt sein Bein nicht mehr. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Unendlich viel Blut fliesst sein Bein hinab. Mit Mühe versucht er, sich vorwärts zu bewegen. All die verwundeten Bürger der Stadt Basel machen sich so gut wie möglich auf den Weg die Straße runter zum Claraplatz. Auf halber Strecke bricht dieser junge Mann zusammen und hat Mühe, seine Augen offen zu halten. Ein Mann eilt ihm zu Hilfe, nimmt ihn unter den Armen und zusammen kommen sie Schritt für Schritt auch am Claraplatz an. Der Mann übergibt ihn einem Arzt. Noch immer hat er Probleme, bei Bewusstsein zu bleiben und die Worte des Arztes ziehen an ihm vorbei wie die letzten Minuten. Er kann nur Worte wie „Krankenhaus“ und „sofort“ fassen. Der Schmerz, der seinen Körper durchzuckt, lässt ihn alles um ihn herum verschwimmen. Er merkt nicht einmal, wie der Arzt ihm eine Spritze gibt und ihn mit Hilfe auf eine Liege hebt. Die Türen des Krankenwagens schliessen sich und er sieht nur noch eine verschwommene Gestalt. Den ganzen Lärm der mittlerweile aufgewühlten Strasse bekommt er nicht mit. Für einen kurzen Moment sieht er alles scharf, er sieht den Arzt neben sich angeregt mit einem anderen Mann reden. Die Türen gehen auf und grelles Licht blendet ihn. Er schliesst seine Augen, um dem Licht zu entkommen. Es wird immer dunkler. Die Stimmen werden leiser, bis sie vollends verstummen und er nur noch in die Dunkelheit fällt.

Friedrich stösst die Türe auf und tritt in die schwüle Abendhitze. Froh über die Wärme macht sich auf den Weg nach Hause. Sein Onkel und seine Tante warten bestimmt schon auf ihn mit dem Essen. Seine Tante ist, in seinen Augen, eine Meisterköchin. Genauso wie es seine Mutter gewesen ist. Seine Grossmutter ist ebenfalls eine begnadete Köchin gewesen. Sie hat eine Anstellung bei irgendeiner reichen Familie auf der anderen Seite des Rheins gehabt. Sein Grossvater ist Gärtner bei derselben Familie gewesen. Ihre Töchter, also Friedrichs Mutter und Tante, haben beide keine Ausbildung zur Köchin oder Dienstangestellten gemacht. Seine Mutter ist Näherin und seine Tante hilft bei der Schreinerei ihres Ehemannes mit. Friedrichs Cousinen gehen noch alle drei zur Schule.

Noch eine Strasse weiter und er ist zu Hause. Als er vor dem Haus steht, riecht er schon das gute Essen. Im Haus angekommen sitzen schon alle am Tisch und diskutieren über irgendwelche Verbote des Platzkommandos.  «Menschenansammlungen sind verboten. Genauso wie Versammlungen in geschlossenen Lokalen beim militärischen Platzkommando angemeldet werden müssen. Was ist das denn für eine Schweinerei», das Temperament geht mit Friedrichs Onkel Georg durch. Stillschweigend setzt sich Friedrich an den Tisch und wirft ein Hallo in die Runde. Erst jetzt sieht sein Onkel ihn an. «Hast du es auch schon gesehen?» «Nein, bis gerade eben habe ich noch nichts von all dem mitbekommen.»  «Es ist eine Frechheit. Verbieten nun alles Mögliche. Kein Wunder, dass überall gestreikt wird.» «Onkel, was ist es denn diesmal genau, dass du dich so aufregst?» Georg nimmt ein Stück Papier aus seiner Hosentasche und beginnt vorzulesen:

«An die Einwohnerschaft der Stadt Basel

Das Kommando der mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Basel beauftragte Truppen gibt Folgendes bekannt:

  1. Die Truppe hat Befehl in den Strassen und auf den Plätzen von Basel keine Versammlungen, Umzüge oder Ansammlungen irgendwelcher Art zuzulassen.
  2. Sie hat zu Gewährleistung der verfassungsmässigen und gesetzlichen Rechte der Bürger jedermann gegen die Beeinträchtigung seiner Bewegungs- und Handlungsfreiheit zu schützen. Es ist demnach auch das Streikpostenstehen untersagt.
  3. Grössere Versammlungen in geschlossenen Lokalen bedürfen keiner besonderen Bewilligung, müssen aber dem militärischen Platzkommando vorher angezeigt werden.
  4. DasTragen von Waffen aller Art ohne Bewilligung der zuständigen Militärkommando ist untersagt. Zuwiderhandelnde werden verhaftet und dem zuständigen Territorialkommando zur Bestrafung überwiesen.
  5. Stösst die Truppe in der Durchführung ihrer Aufgabe auf Widerstand, so wird sie, gemäss den gesetzlichen Bestimmungen, von ihren Waffen Gebrauch machen.»

Gegen Ende wird Georg immer lauter, so dass seine Frau ihm eine Hand auf den Arm legt, um ihn zu beruhigen. «Ich muss dir zustimmen, Onkel, es ist wirklich ein doofer Zeitpunkt. Es hätte es nicht dümmer treffen können. Übermorgen ist der 1. August und es sind keine Versammlungen zugelassen.» An Friedrichs Gesicht kann man ablesen, wie er sich beherrschen muss, um nicht wie sein Onkel vor angestauter Wut rot anzulaufen.

«Beruhigt euch. Nächstes Jahr gibt es auch wieder einen 1. August. Freut euch lieber, dass sie versuchen, die ganze Situation mit den Streiks unter Kontrolle zu halten. Esst lieber, was auf dem Tisch ist, und sorgt euch nicht weiter darum.» Friedrichs Tante konnte schon immer ihren Ehemann wieder beruhigen. So sitzen nun alle an einem Tisch und reden nicht mehr über dieses Thema. Friedrichs Cousinen erzählen von ihrem Schultag und er selbst von seinem Arbeitstag. Hin und wieder wird aufgrund eines Witzes, egal ob gut oder schlecht, gelacht.

Die nächsten Tage verlaufen wie gewohnt. Friedrich geht früh morgens aus dem Haus und kommt spät abends wieder nach Hause. Doch heute ist der 1. August. Aufgrund des Feiertags hat die Firma am Nachmittag geschlossen. So macht er sich um Mittag auf den Nachhauseweg. Auf dem Weg geht ihm der Abend mit seinem Onkel wegen dem Erlass des Platzkommandos nicht mehr aus dem Kopf. Heute Abend wäre eine Feier auf dem Claraplatz geplant gewesen. Die kann jetzt nicht stattfinden und Schuld daran hat das Platzkommando. Er hat sich so gefreut, all seine Freunde endlich mal wiederzusehen. Er hat sie sicher seit einem Monat nicht mehr gesehen. Als sie noch zur Schule gingen, war alles noch so viel einfacher. Sie sahen sich jeden Tag, aber jetzt arbeitet jeder in einer anderen Ecke der Stadt. In Gedanken an die Schulzeit geht er durch die Gassen und Strassen Basels. Er erinnert sich noch genau, wie viele Streiche sie früher geplant und umgesetzt haben. Einmal war er in den Weihnachtsferien mit seinen Freunden bei irgendeiner Tante von Paul, das waren lustige Tage. Diese Tante hatte einen grossen Hofplatz vor dem Haus und da es genügend kalt war, konnten sie eine Eisfläche machen. Am Abend haben sie begonnen und alle zwei oder drei Stunden ist jemand von ihnen nach draussen gegangen und hat neues Wasser auf das nun gefrorene gegossen. Am nächsten Tag war es dann soweit. Sie konnten ihre Schlittschuhe anziehen und Eishockey spielen auf ihrem eigenen Eisfeld. Komplett in Gedanken versunken merkt er nicht, wie er direkt in eine Menschenmenge in der Greifengasse läuft. Erst als die ersten Rufe und Steine fliegen, erwacht er aus seinen Gedanken. Die ganze Strasse ist aufgerissen. Barrikaden sind errichtet und die Pflastersteine dienen als Munition. Erst als die Polizei von der Mittleren Brücker her kommt, machen sich die Schaulustigen aus dem Staub.

Friedrich fühlt sich komplett fehl am Platz, aber er wird gegen eine Wand gedrängt und kann nicht weg, auf beiden Seiten sind Barrikaden errichtet worden. Im selben Augenblick kommen zwei Militärautos, ein Junge bewirft sie mit einem Stein. Friedrich sieht sich um, ob er irgendwo einen Ausweg findet, aber plötzlich fallen Schüsse und die Menge versteckt sich hinter den Barrikaden. Friedrich hört noch einen Schuss und sieht noch, wie die Waffe mit dem Lauf in seine Richtung zeigt, aber um die Kugel auszumachen, bräuchte er Adleraugen. Er spürt noch den Luftzug der Kugel an ihm vorbei in die Wand gehen. Er ist erleichtert, nicht getroffen worden zu sein.  Als er vor Schmerzen zusammenbricht und aufschreit, weiss er zunächst nicht wieso. Als er an sich runtersieht, bemerkt er, warum er solche Schmerzen verspürt. Sein rechtes Bein ist fast komplett rot. Er macht sich auf, aus diesem Gedränge rauszukommen. Jedoch als er versucht, sein Gewicht auf sein rechtes Bein zu verlagern, zuckt er unter dem Schmerz zusammen und hat Mühe, sich noch aufrecht zu halten. Auf einem Bein humpelnd macht er sich weiter in Richtung Claraplatz. Mit jedem Schritt hat er mehr Mühe, sich auch nur ansatzweise aufrecht zu halten. Langsam sieht man ihm an, dass der Schockmoment vorüber ist. Er wird ganz weiss im Gesicht und die Augen fallen ihm immer wieder zu. Friedrich ermahnt sich immer wieder, die Augen offen zu halten. Er nimmt nichts mehr um ihn herum wahr. Er ist nur noch darauf fixiert, irgendwie zum Claraplatz am Ende der Strasse zu kommen. Der Weg kommt ihm wie eine Ewigkeit vor. Mit jedem Schritt wird sein linkes Bein müder durch die ungewohnte Belastung. Plötzlich spürt er ein paar Arme unter seinen Armen, die ihm helfen, weiter in Richtung Claraplatz zu kommen. Er hat immer mehr Mühe, die Augen offen zu halten. Langsam kommen sie dem Ziel immer näher. Am Claraplatz angekommen übergibt der fremde Mann Friedrich einem Arzt. Friedrich kämpft darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Seine Umgebung nimmt er schon lange nicht mehr wahr. Er hat keine Ahnung, wie viel Zeit mittlerweile, seitdem er in die Menschenmenge geraten ist, vergangen ist. Er wird hochgehoben und in ein Auto gebracht. Die Türen des Autos schliessen sich, er sieht nur noch verschwommene Gestalten. Dann halten sie an und die Türen werden geöffnet. Das grelle Licht von draussen dringt in das Innere des Autos und veranlasst, dass Friedrich seine Augen zusammenkneift und nichts mehr sehen kann. Er hat Schwierigkeiten, seine Augen wieder zu öffnen. Es wird immer dunkler. Zuerst denkt er, sie seien in einem Gebäude angekommen, jedoch hört er noch immer Autos neben ihnen durchfahren. Es wird ihm immer dunkler vor Augen. Der Lärm um ihn herum wird leiser, bis er schlussendlich nichts mehr hört und in ein dunkles Loch fällt.

Warmes Licht dringt durch Friedrichs Augenlieder. Durch das Fenster scheint die Sonne direkt in Friedrichs Gesicht. Langsam öffnet er seine Augen und lässt seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Neben seinem Bett sitzt seine Tante mit dem Kopf in den Händen. Ihr Blick geht starr aus dem Fenster. Friedrich hebt seine Hand und seine Tante zuckt zusammen. Im ersten Augenblick versteht sie nicht, was sich bewegt hat, aber dann realisiert sie, dass Friedrich wieder wach ist und ein glückliches Lächeln bildet sich auf ihrem Gesicht.

«Du bist wieder wach!» Erleichterung schwingt in ihren Worten mit. «Was ist passiert?» Friedrich ist die Ahnungslosigkeit förmlich ins Gesicht geschrieben. «Du wurdest angeschossen.» «Wie lange war ich bewusstlos? Und was ist mit meinem Fuss? Ich kann ihn nicht mehr spüren.» Seine Tante sieht ihn mitleidig an und antwortet: «Du warst fünf Tage bewusstlos. Und wegen deinem Fuss – das musst du selber sehen.» Sie hat sichtlich mit den Tränen zu kämpfen. Sie steht auf und Friedrichs Blick folgt ihr auf Schritt und Tritt. Seine Tante geht auf sein Bett zu und hebt die Decke an. Was Friedrich sieht oder eben nicht sieht, verschlägt ihm den Atem. An der Stelle, wo eigentlich sein Bein sein sollte, ist nur das Bett zu sehen. Er nimmt die Decke komplett weg und sieht einen weiss bandagierten Oberschenkel.  Sein Blick wird starr und plötzlich ziehen Bilder an seinem inneren Auge vorbei. Bilder von einer Waffe direkt auf ihn gerichtet. «Ich weiss wieder, was passiert ist. Die Kugel muss an der Wand abgeprallt sein und direkt mein Bein getroffen haben.» Sein Blick ist starr auf die Stelle gerichtet, wo eigentlich sein Bein sein sollte. «Was ist mit den ganzen anderen Menschen, die da waren, geschehen?» «Es gab einige Verletzte und fünf Tote.»

Die nächsten Wochen ziehen an Friedrich vorbei. Kaum Worte verlassen seinen Mund. Arbeiten kann er vergessen. Vor allem in seinem bisher ausgeübten Beruf. Sein Onkel bietet ihm eine Stelle bei ihm in der Schreinerei an. Mit der Zeit gewöhnt er sich daran, nur noch ein Bein zu haben. Seine Familie unterstützt ihn, wo sie nur kann. Jahre vergehen und Friedrich lebt mit seiner eigenen Familie im Haus neben seiner Tante und arbeitet noch immer bei seinem Onkel.