Glücklich sein, das ist zu viel verlangt!

Diese Seite ausdrucken
Allgemein, Archivpädagogik, Blogserie

Staatsarchiv Basel-Stadt, Politisches JJ 9, S. 32

Eine Erzählung von Jacqueline Balosetti und Enrico Nitihardjo, entstanden 2018 im interdisziplinären Projekt „Krieg und Krise in Basel“ der Klasse 2MS (Geschichte und Deutsch) im Gymnasium Muttenz. Als Ausgangsmaterial und Inspiration dienten Archivquellen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt.

Sie musste sich übergeben. Seit einigen Tagen spürte sie, dass eine Veränderung auf sie zukommen würde. Es war eine bekannte Situation. Eine Vorahnung, dass sie schwanger sein könnte, überfiel sie. Sie lief in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Da sass Noah schon am Esstisch und wartete auf sie. Sie schaute ihn an, wusste jedoch nicht, ob er etwas ahnte. Ihre Blicke trafen sich, da merkte sie, dass er wusste, dass etwas nicht stimmte. Er sprach sie darauf an: „Claudia, ist alles in Ordnung?“ „Ich glaube, ich habe nur etwas Schlechtes gegessen“, antwortete sie. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, schnitt sie das Brot zu.

Sie wollte noch abwarten, ob sich ihre Vorahnung bestätigen würde. Sie wartete noch einen ganzen Monat, um sicher zu gehen. Als sie ihre Periode immer noch nicht erhalten hatte, war sie sich sicher schwanger zu sein. Ihr kamen die Tränen. Sie sass am Esstisch, als ihr Mann von der Arbeit nach Hause kam. In seiner Hand hielt er einen Brief. Er schaute sie bedrückt an. Sie fragte, was los sei. Er antwortete: “ Ich muss in den Dienst einrücken.“ Sie war schockiert. Sie rechnete nicht mit solch einer Schreckensnachricht. Sie fragte ihn, wann es denn losgehe. „Morgen früh muss ich los“, war seine Antwort. Noah war nun mit den Vorbereitungen beschäftigt und fand keine Zeit mehr für etwas anderes. Claudia wusste nicht, wann und wie sie ihm sagen sollte, dass sie schwanger sei. Früh am nächsten Tag fuhr er los und sie hatte es ihm nicht erzählt. Schuldgefühle plagten sie. Gleich darauf schrieb sie ihm einen Brief, in dem sie alles erzählte.

Die weiteren Tage verbrachte sie zuhause bei den Kindern und wusste nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Es kam alles so plötzlich. Sie wusste, um über die Runden zu kommen, musste sie arbeiten gehen. Sie blätterte die Zeitung durch und fand zwei Angebote, die in Frage kamen. Näherin bei einer grossen Firma oder Putzfrau im Gastgewerbe Schlossgarten. Jedoch würde sie bei beiden Arbeitsangeboten nur die Hälfte von dem erhalten, was ein Mann bekommen würde. Was bei weiterem Überlegen keinen Unterschied machen würde, denn es wäre bei den anderen Arbeitsstellen nicht anders. Ausserdem ging es für sie und ihrer Familie um jeden Rappen. Beim Weiterlesen des Stellenangebotes als Näherin erinnerte sie sich, dass ihre Nachbarin bei diesem Unternehmen tätig war. Aufgeregt lief sie zu Isabel und wollte sie fragen, ob sie ein gutes Wort für sie einlegen könnte. Isabel schlug ihr vor, sie sollte gleich mit ihr zur Arbeit kommen und sich persönlich bei ihrem Vorgesetzten vorstellen. Isabel gab ihr noch ein paar Tipps, wie sie sich verhalten sollte. Sie sagte ihr: „Er heisst Gilbert Kaufmann, er ist sehr eitel und hat einen speziellen Bezug zu Frauen. Am besten schmeichelst du ihm ein wenig, dann wird er dich mit Sicherheit einstellen. Vor allem weil du eine solch junge, hübsche Frau bist.“ Claudia bedankte sich für die Ratschläge, fand sie aber merkwürdig. Das Treffen mit dem Vorgesetzten lief anfangs gut, später wurde es immer unangenehmer. Sie versuchte die Ratschläge von Isabel zu befolgen, merkte aber schnell, dass es in eine ganz falsche Richtung ging. Das Gespräch wurde immer wieder durch falsch platzierte Komplimente von Gilbert unterbrochen. Somit war sie sich nie sicher, was er eigentlich von ihr wollte. Aussagen wie: „Sie haben eine sehr schlanke Figur, das passt sehr gut bei uns ins Geschäft“, empfand sie als sehr unpassende Komplimente, die überhaupt nichts mit der Arbeitsstelle zu tun hatten. Dennoch wollte sie die Stelle annehmen, denn es war eine sichere Einnahmequelle, um ihre Kinder zu ernähren.

Sie hatte sich gut in die Arbeit eingelebt, auch wenn sie etwas eintönig war. Gerade als sie ein Problem mit ihrer Nähmaschine hatte, hiess es, sie hätten einen neuen Abteilungschef. Sie sollte sich nun bei ihm melden. Ihr erster Eindruck von ihm war:“ Ja, der passt hier gut rein.“ Sein Name war Leonard Welten. Er war ein junger, gutaussehender Mann im Alter von etwa 20 Jahren. Er begrüsste sie und fragte sie, was sie bräuchte. “ Eine neue Nähmaschine wäre nicht schlecht, meine spinnt mal wieder „, sagte Claudia.“ Ich schau mal, was ich für Sie machen kann“, antwortete er ihr mit einem verschmitzten Lächeln. Sie beachtete es nicht weiter. Sie fragte, wann er das denn tun wolle, denn so konnte sie nicht weiterarbeiten. „Ja klar, tut mir leid, ich kümmere mich sofort darum. In einigen Minuten werden Sie gleich weiterarbeiten können.“ Versprach er ihr. Sie ging zurück zur ihrem Arbeitsplatz und wartete. Tatsächlich kam eine neue Nähmaschine nach einigen Minuten und sie konnte weiterarbeiten. Sie war erstaunt, so schnell war noch nie etwas ersetzt worden. Ihr wurde klar, dass es ab heute anders in der Firma laufen würde.

Viele der jüngeren Frauen hatten schon ein Auge auf ihn geworfen. Er selber jedoch nahm es sich gar nicht so zu Herzen. Er war schon immer sehr karriereorientiert gewesen und zu einer festen Beziehung war es auch noch nie gekommen.  So machte er sich auch einen kleinen Spass daraus, sich mit den Frauen zu unterhalten. Es war nicht selten, dass aus diesen Gesprächen mehr wurde. Gemurmel und Tratsch gingen von einem Arbeitsplatz zum andern. „Hast du schon gehört, sie hat mit ihm …“. „Ja, das war so klar, jetzt wo ihr Mann nicht mehr zu Hause ist, kann sie es ja machen.“ Gelächter brach aus. Claudia hatte alles mitgehört, aber nichts dazu gesagt, da sie sich nicht einmischen wollte. Sie tratschte auch gerne mit ihnen, aber sie wusste ganz genau, dass diese Frauen, die jetzt lachten, auch schon was mit ihm erlebt hatten. So schlich sich ein Lächeln in ihr Gesicht. Als sie an diesem Tag nach Hause ging, stand ihr Vermieter vor ihrer Haustüre. Sie erschrak. Dann bat sie ihn höflich, ob er nicht ins Haus kommen wolle. Sie wollte nämlich nicht, dass es jemand mitbekäme. In den letzten Tagen waren schon einige Nachbarn aus ihren Wohnungen rausgeschmissen worden. „Sie sind einen Monat in Verzug“, kam als Mahnung, noch bevor er im Haus war. „Ich weiss. Wollen Sie denn nicht eintreten auf eine Tasse heissen Tee?“, fragte sie ganz verlegen. Er ging rein und drängte darauf, dass er das Geld bekomme. Er betonte, dass es auch für ihn schwierige Zeiten seien und er das Geld jetzt brauche. „Geben Sie mir noch ein wenig mehr Zeit. Verstehen Sie doch, mein Mann musste wieder einrücken und ich bin ganz auf mich alleine gestellt.“ Er sah in ihren Augen die Verzweiflung und er brachte es nicht übers Herz, ihr diese eine letzte Chance zu verweigern, und sagte ihr: „Sie bekommen nur noch eine einzige Chance. Wenn ich das Geld innerhalb von zwei Wochen nicht habe, rufe ich die Polizei und Sie müssen raus!“ Sie bedankte sich bei ihm für den Aufschub und so verliess er ihre Wohnung.

Ihr fiel auf, dass es ungewöhnlich ruhig in der Wohnung war. Sie rief nach ihren Kindern, aber es kam keine Antwort. Sie durchsuchte die Wohnung und fand ihre Kinder nicht. Ihr wurde bange, sie ging zu Isabel nach Hause, um nachzuschauen, ob ihre Kinder dort waren. Jedoch waren sie nicht da und Isabel wusste auch nicht, wo sie sein konnten. Als Claudia wieder in ihre Wohnung ging, um ihre Tasche zu holen, standen ihre Kinder und ihr Abteilungsleiter Leonard Welten im Treppenhaus. Sie hielt abrupt an und war überglücklich, dass ihre Kinder wohlauf waren. Claudia fragte, wo sie gewesen seien. Ihre älteste Tochter Sabine erzählte, was geschehen war. Sie hatten Hunger und sie hatten nichts mehr zum Essen in der Wohnung gehabt. Da sie kein Geld fanden, um sich was zum Essen zu kaufen, gingen sie auf die Strasse, um ihren Hunger zu stillen. Sie betraten einen Kiosk und nahmen sich zwei Äpfel, für jeden einen. Diese hatten sie sich schnell in die Tasche gesteckt.  Sie wollten den Laden gleich wieder verlassen und hofften, dass niemand sie gesehen hatte. Der Ladenbesitzer schrie sofort auf, sie sollten ihre Taschen zeigen. Die Kinder gerieten in Panik und rannten davon, direkt in Herrn Weltens Arme. So konnte der Ladenbesitzer sie schnappen und zur Rede stellen. Er schrie sie an, dass sie die Ware bezahlen müssten. Die Kinder versuchten ihre Situation zu erklären. Sie hätten kein Geld, um sich was zum Essen zu kaufen und zu Hause hätten sie nichts mehr. Das war dem Ladenbesitzer ziemlich egal. Er wollte das Geld dafür bekommen. Die Kinder weigerten sich, ihm die Äpfel zurückzugeben. „Ich entschuldige mich für die Kinder. Ich werde für die Kosten aufkommen. Ausserdem möchte ich gerne einen Laib Brot“, warf Leonard mit einer Selbstverständlichkeit ein. Nachdem gab er Sabine und ihrem kleinen Bruder Tom das Brot. Er versprach ihnen, sie nach Hause zu begleiten. Claudia war peinlich berührt, dass ihr Vorgesetzter ihren Kindern helfen musste. Sie entschuldigte sich bei ihm für die ganzen Unannehmlichkeiten und bedankte sich für die Nahrungsmittel. Sie fragte ihn jedoch, weshalb er das getan hatte. Er erwiderte nur, dass er es wichtig finde, den Menschen, so gut wie es gehe, zu helfen. Vor allem in diesen schwierigen Zeiten müsse die Arbeiterschicht zusammenhalten. Ausserdem wusste er nicht, dass es ihre Kinder waren. Er fragte sie, wo denn ihr Mann sei, dass die Kinder unter solch einem Hunger litten. Sie wusste nicht recht, ob sie ihre Sorgen wirklich bei ihrem Vorgesetzten rauslassen sollte. Er fragte nochmals, wie das sein könne, dass er keine Antwort erhielt. Da fing sie an sich zu fragen, ob er es denn nicht schon längst wisse? Er hat doch Einblick in die Mitarbeiterakten und was denkt er, wieso ich wohl arbeite?

Anstatt es ihm zu erzählen, lud sie ihn zur Wiedergutmachung auf eine Tasse Tee ein. Er nahm sie dankend an und lief schnurstracks auf ihre Wohnung zu. Als sie ihm eine Tasse Tee zubereitet hatte, sprach er sie nochmals darauf an. Jetzt wurde ihr bewusst, dass er es wirklich wissen wollte und keine Ahnung hatte. So sagte sie ihm, dass ihr Mann in den Militärdienst berufen worden war. Sie hoffte nun, dass ihm das reiche, dass er nicht weiter nachfragen würde.  Aber wie sie es schon vermutet hatte, hakte er nochmals nach. „Seit wann ist er denn schon dort? Wie lange muss er denn noch bleiben? Wie geht es Ihnen denn dabei?“ Sie fühlte sich überrumpelt und wusste nicht, wo sie nun anfangen sollte. Am liebsten hätte sie ihn aus ihrer Wohnung geschmissen für sein Unwissen. Sie atmete tief ein und wieder aus, um es ihm zu erklären. „Da mein Mann in den Dienst einberufen wurde und er somit kein Einkommen mehr hat, muss ich für meine Familie sorgen. Ich möchte mich auf keinen Fall bei Ihnen beschweren, doch mit der Hälfte des eigentlichen Arbeitsgehaltes ist es schwierig, über die Runden zu kommen. Aus diesem Grund fehlt uns das Geld für Nahrungsmittel, für die Miete, für neue Kleidung und für noch ein Kind.“ Sie brach in Tränen aus. Sie hatte das so lang schon unterdrückt, dass sie jetzt nicht mehr konnte. Er hatte sie in eine so unangenehme Lage gebracht, dass sie sich nicht mehr beherrschen konnte. „Ich weiss nicht mehr weiter. Mein Vermieter schmeisst mich in zwei Wochen raus, wenn ich nicht für die Miete aufkomme. Dann stehen wir auf der Strasse und meine Kinder, meine armen Kinder, was wird dann aus ihnen? “ Er wollte sie unterbrechen, das gelang ihm nicht. Jetzt war sie nicht mehr aufzuhalten. Sie redete, weinte, lachte und wurde wieder wütend. Als sie sich wieder beruhigt hatte, sah sie Leonards verwirrten Gesichtsausdruck. Sie entschuldigte sich bei ihm und erklärte ihm, dass sie Stimmungsschwankungen habe, sie kämen von der Schwangerschaft. Sie wartete jetzt auf seine Reaktion. Doch er bewegte sich nicht. Er sah aus wie eine Statue. Für gefühlte fünf Minuten herrschte unangenehme Stille. Als er aus seinem Erstarren erwachte, wusste er nicht, was er sagen sollte. „Darf ich Ihnen anbieten, Sie bei der Miete finanziell zu unterstützen? Wenn Sie mir jetzt mit einem Nein antworten nach solch einem Theater, werde ich ihnen das übelnehmen.“ Claudia sah ihn sprachlos an. Diese Reaktion hatte sie sicherlich nicht erwartet. Was sollte sie darauf antworten? Und bevor sie intervenieren konnte, beschloss er ihr zu helfen und verschwand blitzschnell aus ihrer Wohnung. Sie verstand die Welt nicht mehr.

Leonard hielt sein Versprechen. Sie konnte die Miete bezahlen und fürs Erste sah es so aus, als würde sie alles unter einen Hut bekommen. Claudia und Leonard verstanden sich immer besser. Es geschah nicht selten, dass sie sich nach getaner Arbeit im Unternehmen trafen, um gemeinsam Zeit zu verbringen. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt. Er war nicht mehr ein kindischer, selbstverliebter Junge. Nein, dieser Junge war verschwunden. Wenn sie ihn jetzt ansah, sah sie einen sensiblen Mann, der ihr und ihren Kindern eine Zukunft verschaffte. Eine Person, die für sie da war.

Die ersten sechs Wochen waren vergangen und Claudias Mann Noah war wieder zu Hause. Sie hatte Bedenken, wie das wohl werden würde. Denn das Einzige, was sie von ihm in seiner Abwesenheit erhalten hatte, waren nur zwei Briefe. Im ersten Brief schrieb ihr Mann, dass es ihm gut gehe und sie sich keine Sorgen um ihn machen sollte. Eine Reaktion darauf, dass sie schwanger war, hatte sie nicht erhalten. Dafür schrieb er, er habe viele neue Freundschaften geknüpft. Ausserdem würden sie gut verpflegt werden. Es fehlte ihm an nichts. Sie war erleichtert gewesen, dass es ihm so gut ging. Sie schrieb ihm das auch in einem Brief. Zusätzlich schrieb sie, wie es ihren Kindern gehe. Zudem hatte sie eine Arbeitsstelle gefunden. Sie teilte ihm auch mit, dass ihre Familie knapp über die Runden kommen würde.  Sie informierte ihn über die neuesten Erkenntnisse der Schwangerschaft. Sie hoffte, dass diesmal eine Reaktion darauf kommen würde. Auch beim zweiten Brief war sie enttäuscht. Es war ihm egal gewesen. Er antwortete auf nichts, was sie ihm geschrieben hatte. Er freute sich auch nicht über die Neuigkeit seiner neuen Tochter. Stattdessen hatte er sich beschwert, wie schlecht es ihm plötzlich im Militärdienst erginge. Seine Einheit hatte einen neuen Leutnant zugeteilt bekommen. Er war der Teufel in Person. Und nun erkannten Claudia und ihre Kinder Noah nicht mehr wieder. Er war dauernd schlecht gelaunt. Zudem erzählte er jeden Tag, wie ungerecht er behandelt worden war. Seine Hauptbotschaft war: „Diese Welt ist ungerecht! In so einer Welt kann und will doch keiner leben.“

Claudias Tagesablauf veränderte sich. Sie stand morgens früh auf, um für ihre Kinder und ihrem Mann das Frühstück zu zubereiten. Nach dem Frühstück machte sie ihre Kinder fertig für die Schule. Noah schmiss sich auf das Sofa und blieb den ganzen Tag liegen. Claudia brachte die Kinder zur Schule. Danach rannte sie zur Arbeit. Ihr Arbeitstag wurde noch eintöniger. Seit ihr Mann Noah wieder zurückgekehrt war, war die Stimmung zwischen ihr und Leonard angespannter. Die erste Begegnung der beiden verlief nicht so prickelnd. Claudia schickte ihm einen eiskalten Blick zu.  Sie sagte ihm, dass er aufhören müsse, ihr Geld zu geben. Sie sah, dass es ihm weh tat. Jedoch sah sie, dass er verstanden hatte, dass ihr Mann wieder zu Hause war. Am Abend holte sie ihre Kinder und ihren Ehemann Noah nach der Arbeit zu Hause ab. Danach gingen sie zur Volksküche des Kriegsfürsorgeamtes im Dreirosen-Schulhaus. Als die Familie das Esslokal bei den Dreirosen-Turnhallen betraten, sahen sie fünfzig Personen an den Tischen. Die Turnhalle sah sehr trostlos aus. Das Elend der Anwesenden war greifbar. Es erstickte die Luft im Saal. Am Mittag war der Saal randvoll mit Familien gefüllt. Denn für die meisten Einwohner von Basel war das Mittagessen in den Volksküchen, die einzige Mahlzeit, die sie hatten. Am Abend hatte die Anzahl der Besucher abgenommen. Claudia und ihre Familie konnten sich ausnahmsweise noch eine Abendsuppe leisten. Immerhin eine kleine Mahlzeit, bevor der Tag endete. Normalerweise gehörten sie zu den Familien, die am Abend hungern mussten. Später betrat Claudia völlig erschöpft ihre Wohnung. Sie lief direkt durch den Gang zu ihrem Schlafzimmer. Sie legte sich auf ihr Bett, sie zog sich nicht mal um. Daraufhin schlief sie direkt ein. Sie hatte es noch nie so hart in ihrem Leben gehabt.

Mitten in der Nacht wachte sie voller Schmerzen auf. Das ganze Bett war voller Blut. Sie weckte Noah auf, der seelenruhig neben ihr lag. Er motzte sie an, was denn los sei. „Ich blute! Bring mich zum Arzt!“, befahl sie ihm mit zittriger Stimme. Sie hatte Angst und wusste nicht, was geschehen war. Als das Ehepaar beim Arzt ankam, erhielten sie die Nachricht, sie hätten ihr Kind verloren. „Ein Problem weniger“, ertönte aus der Ecke. Claudia sah ihren Mann an und konnte nicht glauben, was sie da gehört hatte. „Geh raus!“, schrie sie ihn an. Verletzt und voller Schmerzen blieb sie alleine im Krankenzimmer zurück. Sie schaute aus dem Fenster. Es wurde schon wieder hell. So still war es seit Langem nicht mehr um sie gewesen. Völlig benebelt und voller Schmerz stand sie auf. Sie lief zum Fenster und öffnete es. Tränen liefen ihr über ihre Wange. Sie blickte nach unten. Sie war im achten Stock. Das Licht der aufgehenden Sonne schien ihr entgegen. Sie schaute ihn eine ganze Weile an und war seit längerer Zeit wieder zufrieden. Sie hatte so viel verloren. Noch ein letztes Mal schaute sie nach unten. Danach war alles vorbei. Ihr ganzes Leid war von einem Moment zum anderen verschwunden.