Nachfragen erwünscht! Zu den Fremdenpolizeiakten im Staatsarchiv

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Aktenzeichen, Blogserie, Magnet Basel

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Ein Meer an Geschichten zu Menschen, die in Basel als Migranten gestrandet sind, verbirgt sich in den Akten des Staatsarchivs Basel-Stadt.

Dieser Beitrag von Nicole Dreyfus erschien im Sonderheft von tachles am 21. April 2017, zur Ausstellung Magnet Basel. Foto: Aurel Fischer 2016.

Öffentlich waren die Akten schon lange. Doch kaum jemand interessierte sich dafür. Denn niemand wusste so richtig, dass es sie gibt, und vor allem, dass sie jedem, der daran interessiert ist, zugänglich sind. Die Rede ist von all jenen Akten, die seit 100 Jahren Geschichten von Menschen skizzieren, die einst vor den Toren Basels standen und sich in der Schweiz ein besseres Leben erhofften. Es waren nicht nur Flüchtlinge, deren Profil die damalige Fremdenpolizei in Basel in einem Dossier oder auf einer sogenannten Personenkarte dokumentierte. Auch alle Arbeit suchenden oder sonstige Einwanderer wurden registriert. So kam von 1912 bis 2002 rund eine halbe Million Dossiers zusammen, sofern sie nicht vernichtet wurden. Wie Esther Baur, die Leiterin des Staatsarchivs Basel, aber sagt, gingen die Behörden der beiden Basel zurückhaltend bei der Vernichtung von Akten vor: «Im Vergleich mit anderen Kantonen haben wir hier einen relativ kontinuierlichen Aktenbestand, den wir der Öffentlichkeit zeigen möchten.» Konkret unternimmt dieses Vorhaben das gross angelegte Ausstellungsprojekt «Magnet. Migration im Dreiländereck». Von April bis Oktober werden an verschiedenen Orten in beiden Halbkantonen fünf Ausstellungen zu unterschiedlichen Themen gezeigt. Ein Kollektiv von Ausstellungsmachern, das sich aus einem Team um Christoph Stratenwerth konstituiert hat, spann die Fäden für die einzelnen Ausstellungen. Mit dem Holzpavillon im Hof des Staatsarchivs Basel-Stadt in der Basler Altstadt, wo sich der Mittelpunkt der fünf Ausstellungen bildet und anhand der gezeigten Akten der Fremdenpolizei von 1917 bis 1970 Lebensgeschichten von Migranten nachgezeichnet werden, bietet das Archiv eine passende Kulisse für die thematischen Linien. Explizit sieht sich das Archiv aber nicht als Ausstellungsmacherin, sondern vielmehr als der Lieferant all dieser Geschichten und Biografien.

Erster Weltkrieg änderte alles

Was heute auf Bundesebene Migrationsamt oder auf kantonaler Ebene im Falle der Stadt Basel Bereich Bevölkerungsdienste und Migration heisst, wurde früher Fremdenpolizei genannt. Sie wurde mitten im Ersten Weltkrieg als eigenständige Kontrollbehörde gegründet. Davor war die Registrierung von einwanderungswilligen Personen weniger behördlich geregelt beziehungsweise der Bundesstaat von 1848 verfügte über keine eigene Polizei. Als Reaktion auf die Industrialisierung und um die Arbeitslosigkeit tief zu halten, wurden im 19. Jahrhundert Einbürgerungen so schnell wie möglich vollzogen. Die letzte grosse Einwanderungswelle erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz. Danach fielen die Gesuche, die über den Tisch der jeweiligen Kontrollbehörde gingen, entschieden restriktiver aus. Die Funktion der sogenannt politischen Fremdenpolizei nahm der Bund in enger Zusammenarbeit mit den kantonalen fremdenpolizeilichen Behörden wahr. Bis in die Zwischenkriegszeit hinein war der Bund für die präventive Überwachung auf die kantonalen Polizeidienststellen angewiesen. Die Fremdenpolizei prüfte im Auftrag des Bundes in jedem Fall die Gesuche der Antragsstellenden. «Das ist auch der Zusammenhang, in dem die Dossiers entstanden», erzählt Esther Baur. «Unabhängig von ihrer Herkunft wurde für jede ausländische Person ein Dossier eröffnet. Im Vordergrund stand jeweils, ob sie einen Arbeitsplatz in der Schweiz in Aussicht hatte. Je nach wirtschaftlicher Lage wurde die Bewilligung erteilt oder auch nicht. Die kantonalen Behörden hatten zwar einen gewissen Handlungsspielraum, allerdings nur im Rahmen der geltenden Bestimmungen.»

Ganze Biografien sichtbar

 In manchen Jahren wurden über 10 000 Dossiers eröffnet, die der Überwachung und Verwaltung ausländischer Personen dienten. In den Dossiers wurden zuerst die Eckdaten zu den jeweiligen Personen erfasst. Weil die Fremdenpolizei aber so viele Informationen zusammentrug – manchmal ergaben sich richtige Briefwechsel zwischen dem zuständigen Beamten und dem Antragsstellenden –, werden ganze Biografien sichtbar. Baur gibt aber zu bedenken: «Aus den Nachforschungen und Überprüfung der Behörden, wie zum Beispiel Gespräche mit dem Arbeitgeber oder den Nachbarn, kam sehr viel Information über Personen zusammen, über die man sonst nie etwas erfahren hätte. Dies ist ein grossartiger Fundus für die Forschung wie auch interessierte Einzelpersonen, zum Beispiel die Betroffenen selbst. Allerdings ist Vorsicht angebracht: Die vorhandenen Informationen sind in dem sehr bestimmten Kontext der fremdenpolizeilichen Überprüfungen zusammengekommen und enthalten – manchmal implizit, manchmal explizit – starke Wertungen. Weder ist einfach alles wahr, was in den Dossiers steht, noch ist das Bild, das gezeichnet wird, vollständig oder gar wertneutral.» Allerdings räumt Baur ein, dass in Basel kein ausgeprägtes Denunziantentum vorgeherrscht hätte. Spannend sei aber allemal zu sehen, wo die Fremdenpolizei auf ihrer Position beharrt habe, und wann sie ihre Nachforschungen intensiviert oder abgebrochen habe. Das alles wird aus den Akten sichtbar. Auch die Tätigkeit der Behörden ist geprägt von den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, dem kulturellem Hintergrund, kurz dem historischen Kontext.

Gründe für ein Dossier

 Hin und wieder wurden aber auch Dossiers vernichtet. Nach welchem System die Behörden Akten aussonderten, sei heute nicht mehr zu klären. «Es gibt kein Muster für die Vernichtung», finden sowohl Esther Baur als auch Hermann Wichers, Leiter der Abteilung Benutzung im Staatsarchiv und Mitarbeiter Baurs. Das bleibt wohl eine Frage für die Forschung. Geschlossen hat die Fremdenpolizei ein Dossier immer dann, wenn eine Person eingebürgert, also Bürger der Stadt Basel wurde, die Schweiz verlassen hat oder hier gestorben ist. Bei der ganzen Masse an Dokumenten, die heute im Staatsarchiv der Stadt Basel untergebracht sind, stellt sich die Frage, warum überhaupt so detailliert über eine Person eine Akte geführt wurde. Für Wichers und Baur ist der Fall klar: «Die Fremdenpolizei sah sich immer mit der Frage konfrontiert, ob das Gesuch einer Person bewilligt oder abgelehnt werden musste. All die Informationen dienten der Prüfung des Aufenthaltes der Ausländer und schliesslich auch der Statistik», ergänzt Wichers.

Das Recht der Öffentlichkeit

 Wenn die Behörden die Unterlagen nicht mehr benötigen – und sie nicht vernichtet werden –, kommen sie ins Staatsarchiv, wobei dieses bis heute entscheidet, was archivwürdig ist und was nicht. «Das Archiv hat ein genuines Interesse daran, diese Dokumente zu bewahren», sagt Baur und führt drei Gründe auf: Erstens dient es dem Einzelnen und der historischen Forschung. Zweitens hat die Öffentlichkeit ein Recht, diese Akten einzusehen und drittens liegt es im Interesse der Öffentlichkeit und des Kantons, dass vormaliges staatliches Handeln nachvollziehbar bleibt. «Eine möglichst rationale Auseinandersetzung mit der Geschichte auf einer möglichst verlässlichen Basis von Dokumenten steht an vorderster Stelle», sagt Baur. Daher werden alle Dokumente von juristischer Relevanz und weitere überlieferungswürdige Unterlagen archiviert – mit dem Nebeneffekt, dass darin auch Informationen über Personen enthalten sind. Aus diesem Grund gibt es für jede Akte, sei es ein Dossier der Fremdenpolizei oder auch nur eine Kontrollkarte, eine Schutzfrist. Als Minimum gilt die allgemeine 30-jährige Schutzfrist. Hinzu kommen die Lebensdaten der betroffenen Personen: Sie muss zusätzlich mindestens bereits seit 10 Jahren verstorben sein. Ist dieses Datum unbekannt, gilt eine 100-jährige Schutzfrist ab Geburt. Fehlt auch diese Information, so bleibt die Akte ab dem Zeitpunkt, wo sie geschlossen wurde, für 80 Jahre unter Schutz.

Geschichte wiederholt sich nicht

 Der gesamte Aktenbestand war also nie gänzlich gesperrt, hauptsächlich einfach ungenutzt, wobei, wie Baur und Wichers erzählen, hin und wieder jemand seine Familiengeschichte aufarbeiten wollte. Erstmals intensiver recherchierte Anfang der 1990er-Jahre Jean-Claude Wacker für seine Untersuchung die Basler Flüchtlingspolitik von 1933 bis 1945. «In der Basler Bevölkerung ging aber dennoch ein wenig das Gespenst des geheimen Archivs um. In den Akten stehen keine Geheimnisse, sie waren einfach nicht kontinuierlich erschlossen.» Esther Baur war es hingegen schon lange ein Anliegen, diese Akten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. «Das Archiv gehört der Öffentlichkeit. Aber sie muss auch wissen, dass sie es nutzen kann.» Ihr lag viel daran, dass diese grösstenteils leider nicht erschlossenen Akten auch wahrgenommen werden. So gab Baur auch den Anstoss für das Ausstellungsprojekt «Magnet. Migration im Dreiländereck». Monatelang erfasste und katalogisierte das Team von Esther Baur die von den Ausstellungsmitarbeitenden benutzten Dossiers, welche diese für die Ausstellung herausgesucht hatten. Ihr geht es als Historikerin, aber auch als Archivarin um Sensibilisierung, Aufklärung und um die Auseinandersetzung mit der Geschichte. «Der Blick auf die Gegenwart verändert sich mit der Auseinandersetzung mit Geschichte. Die Dinge werden zwar manchmal komplizierter, aber das Bewusstsein differenzierter. » Differenzierung verhindert bestenfalls einfache Polarisierung. Den alten Satz, dass sich Geschichte wiederholt, kann Esther Baur nicht unterschreiben. «Geschichte wiederholt sich nie. Aber vielleicht gewisse Muster. Auch deshalb ist die Geschichte wichtig. Nicht zuletzt auch im Falle der Stadt Basel, deren Geschichte im 20. Jahrhundert auch eine Geschichte der Migration ist.»