Rettung trotz Widrigkeiten

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Aus dem Lesesaal

Ein Gastbeitrag von Ulrich Tromm.

Georg Grunkin wurde am 29. Dezember 1903 in Witebsk im zaristischen Russland geboren. Im Februar 1907 folgte er mit seiner Mutter dem ein Jahr zuvor aus dem zaristischen Russland geflohenen Vater, Wulf Grunkin, nach Lörrach. An die Umstände der Flucht seines Vaters aus Witebsk, der ursprünglichem Heimatstadt der Familie, konnte sich Georg Grunkin nicht erinnern. Die Stadt liegt im heutigen Weißrussland unweit dem Geburtsort des Malers Marc Chagall. Spekulationen, dass Georg Grunkins Vater in Folge eines Pogroms zur Flucht gezwungen war, sind nicht abwegig. Übergriffe der nichtjüdischen Bevölkerung auf jüdische Gemeinschaften in den sogenannten „Ansiedlungsrayons“ geschahen häufig und blieben für die Täter in der Regel folgenlos. Der Begriff des Pogroms hat in dieser Epoche des zaristischen Russlands seinen Ursprung. Pogrome in der Region Witebsk sind belegt, so auch für den Juni 1906[1]. Wir müssen allerdings Georg Grunkin glauben, wenn er am 8. Oktober 1935 gegenüber der Basler Fremdenpolizei zu Protokoll gibt: „Mein Vater hatte schon ein Jahr zuvor Russland verlassen, aus welchen Gründen entzieht sich auch heute noch meiner Kenntnis. Die Ausreise meines Vaters kam in jedem Fall einer Flucht gleich.“[2]

Die Familie wurde in Lörrach heimisch und sollte es bis in die NS-Zeit hinein bleiben. Die Einbürgerung erfolgte am 8. August 1919.[3] Georg Grunkins schulische und berufliche Laufbahn nahm einen normalen und durchaus erfolgreichen Verlauf. Nach Abschluss der Lörracher Realschule mit der Unterprimareife trat Georg Grunkin im August 1919 als noch nicht ganz 16-jähriger kaufmännischer Lehrling in die Lörracher Filiale der Riehener Weberei Hermann Aretz ein. In seiner Freizeit bildete er sich in Sprachkursen in Basel weiter. Seine erste feste Anstellung als kaufmännischer Angestellter fand er in der Lörracher Fabrik der Basler AG für Textilindustrie mit Sitz in der Marktgasse 6.

In der Folge übte Georg Grunkin eben diese Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter in Firmen in Freiburg im Breisgau, Düsseldorf, Berlin und Breslau aus und avancierte zum Fachmann für Büromaschinen und Büro Organisation. Schließlich trat er in die Firma Ludwig Fritsche in Freiburg ein, wo seine bis dato durchaus verheißungsvoll Karriere mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten ein jähes Ende nahm. Als Jude in der Firma nicht länger erwünscht schlug sich Georg Grunkin fortan als freiberuflicher Vertreter durch.

Heiratsabsicht als „Rassenschande“

Zum Verhängnis wurde ihm seine Liebesbeziehung zu einer „Arierin“. Er kannte die junge Frau seit sieben Jahren, war mit ihr verlobt. Das Freiburger Standesamt lehnte das Aufgebot zur Eheschließung ab, und doch fand sich ein katholischer Geistlicher, der bereit war, die kirchliche Trauung vorzunehmen. Der weitere Fortgang der Ereignisse ist seiner handschriftlich verfassten Erklärung zu entnehmen, die er nach seiner erzwungenen Flucht der Basler Fremdenpolizei unterbreitete.[4] Ohne jegliches Unrechtsbewusstsein hatte Georg Grunkin bereits Vorbereitungen getroffen, zum katholischen Glaube überzutreten. Sein Vorhaben der Eheschließung war, so Grunkin, „der Geheimen Staatspolizei in Freiburg bekannt. Meine ehrlichen Absichten wurden von dieser Stelle nicht anerkannt. Aus angeblichen rassenschänderischen Beziehungen zu meiner Braut wurde ich am 22. August [1935] in Schutzhaft genommen. Diese Haft unterscheidet sich in keiner Weise von der eines wirklichen gemeinen Verbrechers, ist viel mehr noch schlimmer. Ich war über drei Wochen in Einzelhaft, durfte auch die kleinsten Arbeiten nicht mitmachen, obwohl ich mich freiwillig dafür gemeldet hatte. Nach vier Wochen Haft in Freiburg wurde ich nach Kislau verbracht. Bei meiner Einlieferung in das Konzentrationslager wurde mir eröffnet, dass ich das Lager nicht eher verlassen kann, bis ich den Nachweis erbringe, im Ausland ein Unterkommen gefunden zu haben. Auch wenn es ein oder zwei Jahre gedauert hätte. Am 27. September, also nach über fünf Wochen, wurde ich aus der Schutzhaft entlassen. Acht Tage später wollte ich meinen Wohnsitz in Freiburg wieder aufnehmen, durfte mich jedoch polizeilich nicht anmelden. Auch bei meinen Angehörigen in Lörrach durfte ich auf Weisung der Polizei keinen Aufenthalt nehmen. Vielmehr hatte die Behörde in Freiburg die Anweisung, meine Ausreise aus Deutschland bis zum 8. Oktober nach Karlsruhe zu berichten.“

KZ-Haft oder Flucht?

Grunkin versicherte dem Regierungsrat in Freiburg, er habe bereits vorbereitende Schritte für seine Ausreise unternommen, aber dieser Prozess könne noch Monate in Anspruch nehmen. Aber für diesen Fall drohte der Freiburger Regierungsrat Grunkin neuerliche KZ-Haft an, um ihn dann irgendwo hin abzuschieben. Angesichts der Gefahr einer neuerlichen Inhaftierung entschied sich Georg Grunkin zur Flucht in die Schweiz. Offenbar nutzte er die Mittagspause seines Termins auf dem Regierungspräsidium, um nach Lörrach zu fahren und dort seinen Angehörigen seine Lage zu schildern und dann ohne Verzug in die Schweiz zu flüchten. Am 3. Oktober überschritt Glunkin in höchster Not die Grenze in Stetten/Riehen. Am 9. Oktober verwendete sich die Israelitische Fürsorge und Armenpflege Basel für ihn: „Wir bitten Sie, Herrn Georg Gurunkin, geb. 29. 12. 03 bis zur Erledigung seiner Angelegenheiten hier weiterhin Aufenthalt zu gewähren. Wir kommen für den Unterhalt des Genannten bis dahin auf.“

Staatenlos

Das NS-Regime hatte am 19. April 1934 die Einbürgerung der Familie Grunkin am 8. August 1919 für nichtig erklärt. In Basel stand der somit staatenlose Grunkin vor der Schwierigkeit, Papiere für seine Ausreise aus der Schweiz zu erlangen. Er beantragte ein Ein- und Ausreisevisum für seinen Fremdenpass, nicht ohne seinem Antrag hinzu zu fügen: „Es ist für mich selbstverständlich, dass ich mit Erteilung des Visums nicht mehr nach der Schweiz zurückkehren darf und versichere Sie an dieser Stelle, dass ich diese Verpflichtung unbedingt einhalten werde.“[5]

Ende November waren Grunkins Pläne der Weiterreise so weit gereift, dass er – irrtümlicherweise -Aussichten der Ausreise nach Brasilien bzw. Argentinien sah. Zuvor wollte er einen Zwischenstopp in London einlegen, um sich dort zu verehelichen. Allerdings stellte das britische Konsulat in Basel für die Erteilung eines entsprechenden Visums die Bedingung, dass Grunkin den Nachweis der Wiederausreise aus England erbringen könne, und zwar in Form eines Schiffstickets von einem britischen Hafen aus.[6] In der Folge durchkreuzten sich die Entscheide der Eidgenössischen und der Basler Fremdenpolizei. Erstgenannte Instanz verfügte am 24. Dezember 1935 die „Wegweisung“ Grunkins,[7] wenngleich die Basler Fremdenpolizei Grunkins Aufenthaltsbewillung bis zum 31. Dezember verlängert hatte.

Letzte Hoffnung Paraguay

Keines der von Grunkin ins Auge gefassten Länder, Brasilien, Argentinien, Südafrika, war bereit, ihm als Staatenlosen die Einreise zu erlauben. Wieder gewährte die Eidgenössische Fremdenpolizei eine weitere kurze Gnadenfrist, und zwar bis zum 29. Februar 1936. Tatsächlich schiffte sich Georg Grunkin am 16 Februar 1936 in Le Havre mit einem paraguayanischen Visum ein. Es gelang ihm, in Montevideo zu bleiben und von dort aus nach Argentinien einzuwandern. Dort nahm er im Juli 1941 seinen festen Wohnsitz.[8]

Georg Grunkins Schwester Rosa verehelichte sich in Riehen und entging der Vernichtung. Seine Mutter gelangte aus dem Internierungslager Gurs im zunächst unbesetzten Frankreich in die Schweiz, seine beiden dort ebenfalls internierten Geschwister hingegen nicht. Ihre Schicksale sind ausführlich beschrieben in: Lukrezia Seiler (Hg.): Was wird aus uns noch werden? Briefe der Lörracher Geschwister Grunkin aus dem Lager Gurs, 1940-1942, Zürich: Chronos Verlag 2000.


[1] Eine Auflistung aller bekannt gewordenen Pogrome im Zeitraum von 1903-1906 findet sich in: The American Jewish Year Book 2008 Vol. 8, FROM KISHINEFF TO BIALYSTOK.

[2] Durchaus plausibel sind Lukrezia Seilers Mutmaßingen über den Fluchtgrund von Wulf Grunkin: „Vermutlich wolle er einer Einberufung in den 1904 ausgebrochenen Russisch-Japanischen Krieg zuvorkommen, denn gemäß seinen militärischen Papieren war er russischen Reserve-Einheit zugeteil. L. Seiler, a.a.O. S. 17

[3] Georg Grunkins in Basel handschriftlich verfasster Bericht und die dort gemachten Angaben finden ihre Bestätigung in den im Staatsarchiv Freiburg abgelegten Akten zu Georg Grunkins Wiedergutmachungsverfahren; Signatur: F 196/1 9320/4

[4] Georg Grunkin, Basel, Kornhausgasse 8 an das Polizeidepartement, Abteilung Fremdenpolizei, 8. Oktober 1935

[5] Schreiben an die Fremdenpolizei vom 21. November 1935

[6] Gesuch um Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung vom 30. 11. 1935

[7] Dieser Wegweisungsbescheid war Grunkin am 2. Januar 1936 zugestellt worden.

[8] Siehe Angaben von Georg Grunkin im Wiedergutmachungsverfahren Staatsarchiv Freiburg F 196/1 9320/2