Einst ein Instrument täglicher Arbeit, heute ein Archivdokument: die Einleitungsseite zur Flamme-Chronik. Die Flamme war eine Wohngruppe im Bürgerlichen Waisenhaus Basel. Die Kinder und Jugendlichen durften dort die Chronik (ca. 1940–1953) führen.
Pro und Kontra der Arbeitsdokumentation … und was das mit dem Jubiläum „350 Jahre Bürgerliches Waisenhaus Basel“ zu tun hat? Ein Gastbeitrag von Julia Mehira, Stabsstelle der Geschäftsleitung im Waisenhaus
Wenn jemand sich für einen sozialen Beruf entscheidet, stehen für ihn die Menschen und der Kontakt mit ihnen im Vordergrund. In der letzten Zeit ist der Trend sowohl in der Sozialen Arbeit (wie auch in den anderen „sozialen Berufen“) aber ganz klar – es wird dokumentiert! Und seit der flächendeckenden Digitalisierung an jedem Arbeitsplatz steigen die Anforderungen an die Dokumentation der Arbeit stetig und werden ausdifferenziert. So wundert es grundsätzlich nicht, dass die Stimmen der „Sozis“ (Sozialarbeitende / -pädagogen) laut werden: „Es bleibt ja gar keine Zeit mehr für die eigentliche Arbeit mit Menschen selber, die Zeit wird von der Schreibarbeit verschlungen!“.
Doch spätestens seit diesem Jahr werden solche Stimmen im Bürgerlichen Waisenhaus leiser. Der Grund dafür ist das 350 Jahre-Jubiläum. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht völlig offensichtlich ist, wie diese zwei Sachen miteinander verbunden sind, sie sind es dennoch. Beweis dafür ist das Buch „Zuhause auf Zeit“, das im Christoph Merian Verlag just zum Jubiläumsjahr erschienen ist. Die Publikation ist ein Ergebnis der gründlichen Forschung von mehreren Autorinnen und Autoren, die 3 Jahre lang das Staatsarchiv Basel-Stadt und das interne Waisenhaus-Archiv durchforstet und zahlreiche Interviews mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt haben. Das Buch ist eine gelungene Mischung aus einer fundierten Recherche und persönlichen Geschichten, die einem nahe gehen.
Informationen und Erfahrungen
Im Kapitel „Das Waisenhaus im Wandel der Zeit“ wird die Entwicklung der Institution während der Jahrhunderten geschildert. Dabei werden die dazumal üblichen Erziehungsvorstellungen in Relation zum damaligen Zeitgeist und den Werten und Normen gestellt. Kinder und erwachsene Gefangene unter einem Dach zu beherbergen, ist aus heutiger Sicht ein Graus und Kinderrechtsverletzung. Im 17. Jahrhundert hat das niemanden gewundert. Wer Zahlen und Fakten wissen will, wird im Kapitel „Das Waisenhaus im Lichte der Statistik“ fündig: Kinder und Jugendliche, Personal, Finanzen. Spannende Berichte über den Heimalltag damals und heute finden die Leserinnen und Leser im Kapitel „Alltag im Kischtli“. Dort verweben sich sowohl die Zeugenaussagen wie auch Aussagen aus den Zeitdokumenten zu eindrücklichen Schilderungen zu Themen wie Schule und Arbeit, Körper und Privatsphäre, Disziplin und Strafe, Herkunftsfamilie und Aussenkontakte.
Das Herzstück des Buches sind allerdings die zehn Interviews mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von den 1930er- bis 2010er-Jahren. Ehemalige Bewohnerinnen und Mitarbeiter erzählen ihre Geschichte und somit ein Stück der Geschichte des Waisenhauses.
Blick nach vorne
Und was hat das mit der sinkenden Abneigung gegenüber der Dokumentation zu tun? Das hat eine Mitarbeiterin sehr bildlich ausgedruckt: „… wenn ich jetzt auf das Archivmaterial zum 350-Jahre-Jubiläum schaue, sehe ich, wie wertvoll es ist, dass wir daraus erfahren können: Wie hat man vor 100 Jahren gearbeitet? Was war damals wichtig, was waren die Werte? Was hielt man vor 300 Jahren fest, was ist es heute? In der Gegenwart, in der man steht, denkt man immer, man ist so modern, und schaut auf eine Zeit zurück und fragt sich: Wie konnte man nur so etwas machen? Aber in 50 Jahren schaut man vielleicht auf unsere Arbeit zurück und fragt sich das auch…. “
Wir alle, die den Entstehungsprozess des Buches miterlebt haben, gehen nun definitiv anders mit der Dokumentation unserer Arbeit um. Denn in 100 Jahren werden der heutige Ämtliplan und Tagesjournal-Eintrag Archivgut sein, und unsere Nachkommen werden uns danach beurteilen!
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