Die Armut der Reichen

Diese Seite ausdrucken
Allgemein, Archivpädagogik, Blogserie

Flugblatt, undatiert. Staatsarchiv Basel-Stadt, Politisches JJ 9, S. 71

Eine Erzählung von Silan Kaya und Carmen Merz, entstanden 2018 im interdisziplinären Projekt „Krieg und Krise in Basel“ der Klasse 2MS (Geschichte und Deutsch) im Gymnasium Muttenz. Als Ausgangsmaterial und Inspiration dienten Archivquellen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt.

Das Wetter war trüb an jenem Morgen, als Martha sich dem Küchenfenster zuwandte. Ein kurzer Blick nach draussen verriet, dass die grossen, dunklen Haufenwolken, welche den Himmel vollständig bedeckten, Regen mit sich bringen würden. Das Bild der beinahe menschenleeren Strasse erweckte ein Gefühl von Traurigkeit in ihr. Sie versank in Gedanken in der Hoffnung, etwas Vertrautes von früher zu erkennen. Doch da gab es nichts mehr. Die früher mit Kreide bemalte Strasse, auf der “Himmel und Hölle“ gespielt worden war, war nun eine Strasse, die nur noch zum Überqueren genutzt wurde. Keine Spur mehr von Freude oder Lebendigkeit.

Sie wandte sich von der Strasse ab und blickte zu den Häusern, welche auf der gegenüberliegenden Seite der Rittergasse 11 lagen. Die weisse Fassadenfarbe hatte sich gelöst und blätterte immer mehr ab. Auch die grünen Fensterläden waren nicht mehr auf dem neusten Stand. Ein Neuanstrich wäre definitiv nötig gewesen. Darum kümmerte sich jedoch niemand.

Der Weltkrieg war schon voll im Gange. Dies wurde Martha besonders in diesem Moment bewusst. Es war das Jahr 1917, der 15. April, und die verstrittenen Länder Deutschland, Frankreich, Russland, Grossbritannien und Österreich-Ungarn waren schon seit drei Jahren damit beschäftigt sich gegenseitig zu bekämpfen. Leben wurden von Sekunde zu Sekunde ausgelöscht. Die Menschlichkeit ging im Laufe des Krieges unter. Es hiess nur noch eines: Sterben oder Überleben. In der neutralen Schweiz, wo sie mit ihrer Familie lebte, war die Situation hingegen anders. Besonders die Arbeiterfamilien hatten mit anderen Problemen zu kämpfen, welche im Laufe des Krieges immer stärker zunahmen: mit Hunger, hoher Teuerung und knappen Löhnen

„Mama, Mama!“ Martha wurde aus ihren Gedanken gerissen und sah, wie ihre Tochter Elly ungeduldig an ihrem Pullover zog. „Wann kann ich endlich wieder zur Schule gehen?“, fragte sie ihre Mutter. Martha wusste, dass diese Frage kam. Sie kam jeden Morgen und jedes Mal war die Antwort gleich. Sie wusste, Elly konnte nicht verstehen, was es bedeutete, wenn die Schweiz von kriegsführenden Nationen umgeben war. Vor allem wenn das eigene Land davon nicht direkt betroffen war. Sie versuchte es ihr immer wieder zu erklären und verständlicher zu machen, weshalb sie nicht in die Schule gehen konnte. Bei Kriegsbeginn im Jahr 1914, am 28. Juli, wurden 220`000 Soldaten und 80`000 Offiziere in Basel mobilisiert. Dadurch waren die Schweizer Bürger sicher, redete sich Martha immer wieder ein, um ihre Angst zu überspielen. Durch die Mobilmachung wurden schlussendlich auch die Schulen von Soldaten und Offizieren besetzt. Was somit hiess, dass keiner mehr zur Schule gehen konnte. Auch Elly nicht. Doch beim Versuch, ihr dies klar zu machen, strahlten Ellys Augen immer wieder eine Art von Ratlosigkeit und Unsicherheit aus, was Martha zeigte, dass es sinnlos war, immer wieder darüber zu sprechen. Elly wollte es vermutlich gar nicht hören. Das musste es sein.

Während der Zeit, in der sie keine Schule hatte, besuchte Elly ihren Vater bei der Arbeit. Er hiess Johannes Vischer und ihm gehörte die Seidenindustrie Vischer + Co in Basel. Er hatte sie nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1901 übernommen. Das Areal erstreckte sich über die Klingentalstrasse, die Hammerstrasse und die Sperrstrasse. Die Seidenindustrie lief während des Krieges sehr gut. Die Produkte wurden weltweit exportiert. Dadurch konnte ausserordentlicher Reichtum ermöglicht werden. Das Einkommen der Familie Vischer war in dieser schweren Zeit des Krieges, in welcher Hunger und hohe Teuerungen herrschten, gesichert. Es ging ihnen gut. Sehr gut sogar. Sie hatten ihr Haus an der Rittergasse, welches im Gegensatz zu den anderen einfachen Häusern in Basel auf dem Münsterhügel platziert war. Sie wurden deshalb als Daig bezeichnet. Der Daig gehörte zur Stadtbasler Oberschicht, einer gesellschaftlichen Gruppe, welche sich selbst abgrenzte. Nach unten, gegenüber dem Mittelstand und der Unterschicht, aber auch seitwärts gegenüber den „Neureichen“. Martha schämte sich gewissermassen dafür. Sie wusste, wie es den meisten Familien in Basel zu dieser Zeit ging. Arbeiterfamilien kamen beinahe nicht mehr über die Runden, denn der Lohn kam mit der schnellen Teuerung nicht mit, was Familien in bittere Not brachte. Es machte sie traurig, gar wütend, diese Ungerechtigkeit zu beobachten. Aber sie konnte nichts dafür, dass es ihr gut ging. Dies versuchte sie sich immer wieder einzureden, um ihr schlechtes Gewissen zu verdrängen.

Martha hatte das Gefühl, dass ihr Mann Johannes sich in den letzten drei Jahren sehr verändert hatte. Besonders in ihrer Beziehung war es nicht mehr so harmonisch, wie sie es sich gerne wünschte. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, sprach er nur noch von seiner Seidenindustrie, wie gut sie lief und wie viel Geld er dadurch erwirtschaften konnte. Es kam ihr vor, als würde ihn die derzeitige Situation in Basel gar nicht kümmern oder interessieren. Er schaute nur auf sich, auf den Gewinn und auf das Wohl der Familie. Wenn Martha mit ihm über die Notlage der Ärmeren in Basel sprechen wollte, wurde sie von ihm immer wieder abgeblockt. Entweder sagte er, dass er keine Zeit habe, über dieses Thema zu sprechen, oder wenn sie anfing zu erzählen, nickte er immer bloss mit dem Kopf und beendete das Thema mit demselben Satz: „Ach, meine liebe Martha, die Arbeiterfamilien leben in ihrer Welt und wir als wohlhabende Familie in unserer. Lass ihre Probleme nicht unsere sein.“ Damit hatte er Recht, dachte sie. Sie hatten wirklich nichts gemeinsam, ausser dass sie in derselben Stadt lebten. Dies merkte sie daran, dass sich die Wohlhabenden nie in Kleinhüningen blicken liessen. Eigentlich schade, dachte sie. Sie würde gerne mal schauen, wie die anderen lebten. Jedoch erlosch der Gedanke wieder sehr schnell. Es gehörte sich für eine Dame wie Martha nicht, solche Gedanken zu haben, warf sie sich selber vor.

Martha fiel besonders auf,  dass er viel über die Fortschritte seiner Firma sprach, aber kein Wort über die Arbeiter, welche bei ihm angestellt waren. Geht es ihnen gut? Gibt Johannes ihnen genug Geld, um über die Runden zu kommen? Diese Fragen stellte sie sich immer wieder. Sie wusste nicht, warum sie sich plötzlich so für die anderen Menschen interessierte. Es sollte sie eigentlich nicht zu interessieren haben, aber sie tat es trotzdem. Ihre Neugier wuchs, als sie schliesslich von ihrer damaligen Freundin Elisabeth zu hören bekam, wie ihr Mann Alfred, welcher in der Seidenindustrie von Johannes arbeitete, von ihm ausgenutzt wurde. Er müsse viel zu lange arbeiten und er würde von ihm nur einen minimalen Lohn dafür bekommen. Martha konnte dies nicht glauben, weil sie überzeugt davon war, dass ihr Mann ein gerechter Arbeitgeber sei und faire Löhne auszahle. Als die Freundschaft durch die Meinungsverschiedenheiten schlussendlich in Brüche ging, hinterfragte sie sich selber, was sie eigentlich dazu veranlasst hatte, mit voller Überzeugung zu behaupten, es besser zu wissen. Sie hatte keine Ahnung, was in seiner Fabrik vor sich ging. Er sprach nie darüber. Es waren Vermutungen von Martha, wie sie es sich gerne wünschte oder erhoffte von ihrem Mann. Sie nahm sich jedoch vor, sich nicht mehr in seine Arbeit einzumischen und ihm mehr Vertrauen zu schenken. Keine Fragen oder Zweifel mehr.

Es war der 21. April, als Martha sich auf den Weg zum Marktplatz machte. Wie jeden Morgen war der Marktplatz nicht sehr voll mit Leuten. Im Gegensatz zu Martha waren die meisten Arbeiterfrauen bei der Arbeit, um das Familieneinkommen auf eine zum nötigen Lebensunterhalt ausreichende Höhe zu bringen. Während sie sich ein paar frische Äpfel aussuchte, hörte sie, wie zwei Arbeiterfrauen, welche neben ihr standen, über Johannes und seine Seidenindustrie sprachen. Er sei ein ungerechter und egoistischer Arbeitergeber und habe keine Menschlichkeit in sich. Ohne zu überlegen ging Martha auf die Frauen zu und fragte sie, was denn passiert war, dass sie so über ihn sprachen. Judith und Carla, so hiessen sie, erzählten ihr dasselbe, was Elisabeth ihr dazumal schon erzählt hatte. Johannes behandelte die Mitarbeiter schlecht. “Ihr Mann ist ein geiziger Ausnutzer, er sollte sich schämen! Mit diesem Lohn, welcher er unseren Männern bezahlt, können wir uns gerade mal ein Brot und ein paar Kartoffeln leisten. Uns geht es elend! Wir müssen unsere ganze Kraft dafür einsetzen, damit unsere Kinder ihre Mahlzeiten bekommen, während Sie sich die verdammten Äpfel anhand des besten Aussehens auswählen!“, schrie Judith Martha an.

Martha war den Tränen nah und wollte sich nur noch auf den Nachhauseweg machen, als Judith plötzlich auf ihren Kaschmirmantel spuckte. Schimpfend verliessen Judith und Carla den Marktplatz. Martha blieb noch eine ganze Weile am selben Ort stehen und spielte das ganze Ereignis, welches gerade passiert war, nochmals im Kopf durch. Die Tränen flossen ihr übers Gesicht bis in ihren Mund. Sie war traurig, aber auch wütend. Noch nie war sie von Menschen so sehr schikaniert worden wie von den zwei Frauen. Sie wurde in etwas hineingezogen, für das Johannes verantwortlich war. Es war ihr wichtig, wie es der ärmeren Gesellschaft ging, auch wenn dies bei ihr schwer zu glauben war. Doch nun wurde sie von den anderen als Egomanin abgestempelt. Sie wollte nicht mit den anderen Wohlhabenden in einen Topf geworfen werden. Sie musste also etwas unternehmen, um den anderen Menschen das Gegenteil zu beweisen. Sie wusste aber, dass sie gegen Johannes nichts unternehmen konnte. Sie war abhängig von ihm und deshalb konnte sie ihn nicht verlassen. Würde sie gehen, hätte sie nichts mehr. Sie wäre von der Gesellschaft ausgestossen und müsste sich auch von Elly trennen. Es musste andere Möglichkeiten geben, dachte Martha mit voller Überzeugung.

Mit diesem Gedanken setzte sich Martha in Bewegung und als hätte das vorherige, abgespielte Szenario gar nicht stattgefunden, zeichnete sich ein schwaches Lächeln auf ihrem Gesicht ab. Martha machte sich viele Gedanken darüber, wie sie der ärmeren Gesellschaft behilflich sein könnte. Sie musste dabei vorsichtig vorgehen, da es nach aussen nicht zu sichtbar wirken durfte, denn schlussendlich gehörte sie zum Daig und hatte ihre Rolle. Eine Möglichkeit war die Suppenküche, welche für die direkte Versorgung der notleidenden Bevölkerung zuständig war. Ihre Aufgabe wäre das Ausschöpfen der Suppen. Dies würde ihr noch gefallen, dachte Martha. So hätte sie die Möglichkeit, den Menschen vor Ort zu beweisen, dass sie nicht wie Johannes war. Sie musste sich aber selber eingestehen, dass diese Idee schwachsinnig war. Sie konnte sich doch nicht mit einer dreckigen Schürze oder mit einer Suppenkelle blicken lassen. Wenn irgendjemand davon mitbekommen würde, wäre sie die Lachfigur der ganzen Stadt. Sie musste also weiter überlegen. Eine sehr lange Zeit verging, bis sie endlich das Richtige für sich gefunden hatte. Warum war sie nicht schon von Anfang an darauf gekommen. Da gab es dieses eine Inserat, welches sie kürzlich in der Zeitung gelesen hatte. Nervös und völlig aufgeregt bat sie ihre Hausangestellte Edith, ob sie ihr die letzten zwei neuen Zeitungen aus dem Altpapier holen könnte. Nickend verliess Edith das Wohnzimmer.

Keine zwei Minuten vergingen, als Edith mit den ,,Basler Nachrichten“ und der ,,National-Zeitung“ in den Händen auf sie zukam. Schon von weitem sah sie, auf einer der Zeitungen ein grosses, schwarz-weisses Bild und mit der schwarzen, grossen Überschrift: Die Sammelstelle für Hilfsgüter sucht freiwillige Helferinnen und freiwillige Spenderinnen. Martha überflog kurz den Inhalt und dabei wurde ihre innerliche Aufregung immer grösser. Es war ein Aufruf der Frauenhilfsaktion in Basel für Kinder und Frauen, welche sich in Kriegsfürsorge- und Kriegshilfevereinen aktiv beteiligen konnten. Sie rief zur Einigkeit aller Frauen auf und verwies dabei auf die scheinbar typisch weiblichen Eigenschaften der Fürsorge. In der Turnhalle der Töchterschule gab es laut der Beschreibung eine riesige Sammelstelle von Gütern für die notleidende Bevölkerung. Wer also Kleider, Schuhe, Socken oder gar Möbel hatte, welche nicht mehr gebraucht werden, solle sie vorbeibringen. Es hiess auch, dass es hilfreich sei, wenn materiell besser gestellte Frauen eine kleine Geldspende hinterlegen würden.

Martha musste gar nicht erst überlegen. Blitzschnell war sie auf den Füssen und ging mit einem beschleunigten Gang Richtung Wandschrank. Kaum hatte sie ihn geöffnet, begann sie wie wild nach einer Tasche zu suchen. Als sie sich die grösste ausgewählt hatte, ging sie in Ellys Zimmer und sortierte ihre alten Kleider in ihrem Kleiderkasten aus und legte sie in die Tasche. Danach nahm sie alte Schuhe, Hemden oder Blusen von ihr und Johannes, welche sie auch in die bereits halb volle Tasche warf. Ausser Atem versuchte sie die Tasche zu schliessen. Sie befürchtete schon, dass sie gewisse Kleider wieder auspacken musste, doch mit letzter Kraft bekam sie den Reissverschluss noch zu. Das Einzige, was noch fehlte, war das Geld. Sie hatte selber nicht viel, da Johannes das Geld verwaltete. Sie konnte ihn jetzt aber schlecht danach fragen und deshalb kratzte sie sich ihre letzten hundert Franken aus der Brieftasche und schob sie in das ziemlich schmale Zwischenfach der Tasche. Sie griff sich ihren Kaschmirmantel und ihren leicht orangen Hut und verliess samt der Tasche die Wohnung. Mit hastigen Schritten machte sie sich auf den Weg zur Turnhalle der Töchterschule am Kohlenberg.

Die Schule war riesengross und sehr schön, fand Martha. Sie besass unzählige Fenster und die Dächer hatten eine leicht türkisgrüne Farbe. Der kleine Turm oben auf dem Dach gefiel ihr aber am meisten. Sie brauchte eine Ewigkeit, bis sie schliesslich die richtige Türe für die Turnhalle fand. Vor der Türe war ein kleiner Zettel aufgeklebt, auf dem ,,Sammelstelle“ stand. Sie war also richtig. Beim Öffnen der schweren Türe fielen ihr besonders die lauten Stimmen in der Halle auf. Man konnte meinen, es sei ein Geburtstagsfest, so laut war es dort drinnen. Als die Türe schliesslich offen war, blieb sie erst für einen kurzen Moment mit weit aufgerissenen Augen vor dem Eingang stehen. Die Turnhalle war grösser, als sie es sich vorgestellt hatte. Überall waren Frauen, Kinder, aber auch Männer, die mit verschiedenen Sachen beschäftigt waren. Es glich mehr einem Wochenmarkt als einer Turnhalle. Tische und Stühle waren im ganzen Raum verteilt. Kleider, Decken, sogar Möbel waren auf den Tischen oder auf dem Boden platziert. Das Einzige, was noch an eine Turnhalle erinnerte, waren die Sprossenwände ganz hinten an den Wänden.

Plötzlich fühlte sich Martha unwohl, denn sie kannte das so überhaupt nicht. Wohin sie schaute, waren Menschen. Die braunen, ausgewaschenen Röcke der Frauen verrieten, dass sie aus eher ärmeren Verhältnissen stammten. Sie hatte beinahe das Gefühl, die einzige Frau zu sein, welche keine schmutzigen Kleider trug. Sie beschloss deshalb, nur die Tasche abzustellen und wieder zu gehen. Doch bevor sie einen Schritt zurück machte, kam eine ältere Frau grinsend auf sie zu. „Guten Tag, Frau Vischer, kann ich Ihnen behilflich sein?“ Es war Gertrud, welche die leitende Hand dieser Sammelaktion war. Mit einem schüchternen Lächeln begrüsste auch Martha sie. Sie sagte ihr, dass sie eine kleine Geldspende und eine volle Tasche mit alten Kleidern vorbeibringen wollte. Gertrud war scheinbar gerührt von ihrer grosszügigen Geste. Es kam nicht so oft vor, dass die Wohlhabenden an die Ärmeren dachten. “Wenn doch nur alle wie Sie wären, Frau Vischer.“ Martha fand es schön, diese Worte zu hören. Es zeigte ihr, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, hierher zu kommen. Als Martha dann aber wirklich gehen und Gertrud die Hand geben wollte, griff Gertrud in ihre Jackentasche und holte eine rote, kleine Broschüre hervor und drückte sie in Marthas Hände. Als Martha sie fragend anschaute, warf sie einen Blick auf das Exemplar, welches sie in ihren Händen hielt.

Ganz oben auf dem Zettel stand in grosser Schrift ,,Schmetterlingstag’‘ geschrieben. Ein Tag der Schmetterlinge? Martha musste schmunzeln. Als hätte Gertrud ihre Gedanken gelesen, erklärte sie ihr, was es mit dem Schmetterlingstag auf sich hatte. “Am 22. und am 23. April werden wir nochmals einen Spendenaufruf für die notleidenden Schweizer im In- und Ausland organisieren. Wir sind besonders auf die Hilfe von Wohlhabenden wie Sie angewiesen. Es ist kein Muss, aber es würde mich und besonders die Menschen, welche unterstützt werden müssen, freuen, auf Sie zählen zu können.“ Dankend und mit dem Kopf nickend packte Martha sich den Zettel in die Manteltasche. Ein Zeichen für Gertrud, sich wieder an die Arbeit zu machen. Sie bückte sich und nahm die vollgepackte Tasche von Martha auf, mit einem kurzen Kopfnicken machte sie sich wieder an die Arbeit. Bevor Martha ging, warf sie noch einen letzten Blick in die grosse Halle und sah den Menschen beim Einsortieren, Waschen oder beim Reparieren von Maschinen zu.

Martha spürte ihre Freude deutlich. Sie hatte zum erstem Mal in ihrem Leben etwas Gutes für die Ärmeren getan. Sie bereute nichts. Sie wollte und würde es wieder tun. Das einzige Hindernis war Johannes. Den ganzen Tag hatte sie nicht eine Sekunde daran gedacht, was er von ihrer Aktion überhaupt halten würde. Sie hatte seine Kleider zum Weitergebrauch gespendet und hatte ihr Geld, welches eigentlich seines war, für andere Zwecke ausgegeben. Ihre vorherige gute Laune verschwand mit einem Mal. Zweifel kamen auf, ob sie wirklich das Richtige getan hatte. Was wenn sie irgendjemand erkannt hatte und derjenige es weitererzählen würde? Marthas Bauch zog sich zusammen und in ihr wuchs ein Gefühl der Panik. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Johannes davon zu erzählen. Sie musste es tun, da er es sonst von irgendjemandem erfahren würde. Sie wollte aber nicht nur das ansprechen, sondern die Gelegenheit nutzen, ihm alles zu sagen, was sie bedrückte.

Zuhause angekommen, bereitete Edith das Abendessen vor, während Martha sich auf das Sofa platzierte und nervös darauf wartete, bis Johannes mit Elly von der Arbeit nach Hause kam. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Kehle schnürte sich zu. Ihr Atem ging schneller und ihre Muskeln spannten sich leicht an. Sie konnte sich diese Angst selber nicht erklären. Es gab nichts, wovor sie hätte Angst haben müssen, denn Johannes würde sie niemals verlassen, vor allem nicht wegen solch einer Kleinigkeit. Daraufhin fing sie erleichtert an zu schmunzeln. Sie war schon immer gut darin gewesen, die Situation schlimmer zu machen, als sie eigentlich war. Als Johannes mit Elly nach Hause kam, war es kurz vor acht Uhr. Er war gut gelaunt, erkannte Martha. Diese Gelegenheit musste sie ausnutzen. Doch sie wollte es lieber erst nach dem Abendessen ansprechen. Während dem Essen wurden zwischen Johannes und ihr beinahe keine Wörter ausgetauscht. Martha befürchtete, dass er ahnen könnte, dass sie etwas bedrückte. Denn normalerweise war sie diejenige, welche beim Essen die Gespräche führte.

Nun war es aber Elly, die das Schweigen brach. Sie lockerte die angespannte Stimmung ein wenig auf, was auch Martha zum Lächeln brachte. Als Elly nach dem Essen vom Tisch ging, um mit Edith spielen zu gehen, nutzte sie die Gelegenheit, um Johannes alles zu erzählen. Sie gestand ihm, die Arbeiterschaft unterstützt zu haben, und erwähnte auch die Gründe dafür, wie zum Beispiel Judith und Carla, welche sie auf dem Marktplatz blossgestellt hatten. Sie machte eine kleine Pause und wartete darauf, dass er sie anschreien oder einfach nur aufstehen und weglaufen würde. Doch Johannes sagte nichts und hörte ihr mit voller Aufmerksamkeit zu, so dass sie weiterfuhr. Mit jedem weiteren gesagten Wort fühlte sie sich freier und stärker. Sie fühlte sich mit voller Energie geladen und hatte plötzlich keine Angst mehr von seiner Reaktion. Sie liess ihn nicht widersprechen, so dass er während des ganzes Gespräches nur stumm da sass und keine Chance hatte, irgendetwas zu sagen. Martha war wie eine andere Person. Sie sagte ihm sogar, dass sie es respektlos und herzlos fände, wie er mit seinen Arbeitern umgehen würde. “Dein Verhalten und deine abwertenden Äusserungen der Arbeiterschaft gegenüber schmerzen mich und ich schäme mich für dich. Ich habe dich anders in Erinnerung, Johannes! Warum schätzt du nicht, was wir schon haben? Deine Geldgier verändert dich. Dein Mitgefühl für andere Menschen ist beinahe nicht mehr vorhanden. Denn wäre es noch da, dann würdest du die Löhne und die Arbeitszeit der Situation bedingt anpassen. Ich habe mich auch verändert, Johannes, aber ich habe mich ins Positive verändert.  Ich kann mit einem guten Gewissen sagen, heute etwas Gutes gemacht zu haben!“ Martha verstummte, weil sie merkte, dass sie Johannes geradezu anschrie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie wurde plötzlich von einem Gefühl der Enge erdrückt, so als hätte sie keine Luft mehr in ihrer Lunge. Sie musste weg von hier, einfach nur weg von diesem Raum, welcher sie beinahe zerquetschte. Mit einem Male erhob sie sich von ihrem Platz und hastete Richtung Türe. Sie öffnete sie und liess sie hinter sich zuknallen. Im Hintergrund nahm sie nur noch das Rufen von Johannes war. “Martha, bleib doch stehen“, schrie er ihr nach. Sie beschleunigte ihren Gang und mit jedem weiteren Schritt wurden Johannes Rufe immer leiser, bis sie nur noch ihren eigenen schnellen Atem wahrnahm.

Am späteren Abend kam sie nach Hause. Die Wohnung war dunkel, was ein Zeichen dafür war, dass alle schon schlafen gegangen waren. Sie holte sich leise ihre Decke und ihr Kissen aus dem Schlafzimmer und richtete sich im Gästezimmer ein. Auf keinen Fall wollte sie im selben Bett mit Johannes schlafen. Sie versuchte einzuschlafen, doch noch immer quälte sie das vorherige Geschehnis. Doch sie liess das schlechte Gewissen nicht zu. Sie wollte es nie wieder zulassen. Ihre Taten waren richtig und die sollten nicht durch ein schlechtes Gewissen verdrängt werden. Sie hatte alles richtig gemacht.

Am nächsten Morgen stand der Schmetterlingstag vor der Türe. Es war der 22. April. Das helle Licht, welches durch die Fenster in das Zimmer fiel, liess Martha aufwachen. Sie richtete sich auf und stöhnte leise, ihr Rücken tat weh. Das Bett war eindeutig nicht so bequem wie ihr Eigenes. Die Wohnung war ruhig. Johannes war mit Elly bestimmt schon bei der Arbeit, denn es war schon beinahe halb zehn. Sie stand auf und ging in die Küche, um den Kaffee zu trinken, welcher Edith schon am frühen Morgen für sie zubereitet hatte. Martha dachte an den Schmetterlingstag und musste enttäuscht erkennen, dass sie leider nicht hingehen konnte. Auch wenn sie unbedingt wollte, konnte sie nicht. Erstens hatte sie kein Geld, um zu spenden, und zweitens war die Situation zwischen ihr und Johannes schon genug angespannt.

Als sie am Esstisch vorbeiging, fielen ihr eine Broschüre und ein weisses Couvert auf. Martha dachte zuerst, es sei Papierkram von Johannes. Doch als sie sich dem Tisch näherte, kam ihr besonders die rote Broschüre bekannt vor. Es war die Broschüre für den Schmetterlingstag. Als sie die zwei Exemplare in der Hand hielt, sah sie, dass auf dem weissen Couvert unten links in kleiner Schrift ihr Namen stand. “Martha“, sprach sie laut aus. Es war die Schrift von Johannes. Doch was war dort drinnen und woher hatte er diese Broschüre? Sie ging immer noch mit dem Couvert und der Broschüre in den Händen zur Garderobe und schaute in ihrer Jackentasche, ob diese Broschüre, welche Gertrud ihr gegeben hatte noch drinnen war. Sie war nicht mehr drinnen. Sie musste also herausgefallen sein, als sie sich am Abend zuvor eilig die Jacke übergezogen hatte. Doch was wollte ihr Johannes damit sagen?

Sie ging wieder zurück ins Wohnzimmer und nahm auf einem Stuhl Platz. Neugierig öffnete sie mit zitternden Händen das weisse Couvert. Als sie sah, was sich in diesem Umschlag befand, schlug sie ihre Hände vor den Mund. Sie stand auf und musste erst einmal tief einatmen und den Inhalt realisieren. Sie griff in das Couvert und holte ein dickes Bündel von Hunderterscheinen heraus. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Für was war dieses Geld und was sollte sie damit tun? Sie spähte noch einmal in den Umschlag und sah, dass sich noch etwas darin befand. Eine kleine, von Johannes geschriebene Notiz.  Als sie die Zeile las, wurde ihr Lächeln immer grösser. Sie strahlte über das ganze Gesicht und legte die Notiz auf den Esstisch. Sie packte das Couvert samt dem Geld, der Broschüre des Schmetterlingstags, der Jacke und verliess die Wohnung. Immer wieder wiederholte sie in ihren Gedanken die von Johannes geschriebenen Zeilen.

“Eine Spende für den Schmetterlingstag, du tust das Richtige. In Liebe, dein Johannes.“