Die Hungerliebe

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Allgemein, Archivneubau, Blogserie

Eine Erzählung von Yannick van Diest, entstanden 2018 im interdisziplinären Projekt „Krieg und Krise in Basel“ der Klasse 2MS (Geschichte und Deutsch) im Gymnasium Muttenz. Als Ausgangsmaterial und Inspiration dienten Archivquellen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt.

Prolog

Es ist Juli 1916. Der Erste Weltkrieg tobt und ein Ende scheint nicht nahe zu sein … Die Schweiz befindet sich nicht im Krieg, jedoch spürt die Bevölkerung den Krieg sehr stark. In Basel kann man den Krieg hören, die Preise steigen, die Not auch. Einzig die Bürgerlichen beschäftigt das nicht, sie können auch dem rasanten Preisanstieg standhalten!

Im Büro

«Bumm». Die Türe fällt ins Schloss und Erna Markgraf rennt die Treppe hoch zum Arbeitszimmer von Albert Merian, dem Hausherrn. Sie klopft an und ein leises «Herein!» ertönt. «Wie Sie mir aufgetragen haben, war ich auf dem Markt», berichtete die Haushälterin ausser Atem, als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte. «Ich bin schockiert! Die Kartoffelpreise haben sich seit letzter Woche verdoppelt!» «Ja, das ist schlimm! Und das nur, weil die Ernten so schlecht ausfallen!» Plötzlich geht die Tür auf und Peter, Alberts Sohn, stürmt herein: «Vater, kann ich…» «Hast du noch nie etwas von Anstand gehört?» tobt der Vater, «Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du anklopfen sollst! Ich bin gerade beschäftigt! Also raus jetzt!» Sich leise entschuldigend verlässt Peter den Raum.

Am Küchentisch

Alle sitzen sie schon am Tisch in der kleinen Arbeiterwohnung, und warten darauf, dass Josephine Merter das Abendessen, eine Kartoffelsuppe, auftischt. Alle sind sie hungrig, besonders Paul Merter, der den ganzen Tag in der Seidenbandfabrik im Basler St. Alban gearbeitet und dann den fünfzehnminütigen Weg über die Wettsteinbrücke auf sich genommen hat, immer fluchend, wenn ihn ein 2er-Tram überholt, da er sich kein Ticket leisten kann und daher laufen muss. Endlich ist das Essen fertig, und die einzige gemeinsame Zeit am Tag kann genossen werden. Paul spricht das Tischgebet und dankt für die Speise. Zuerst ist es wie immer still in der Küche, doch dann bricht die kleine Emilia das Schweigen: «Papa, heute war ich mit den Markgrafs draussen im Hof! Wir haben mit Kreide so Felder gezeichnet, wo man drin rumhüpfen musste. Wenn man danebensprang, musste man als Strafe eine Blume ins Haar stecken, wer am Schluss am meisten Blumen hatte, hatte verloren. Ich hatte am wenigsten!» «Ich glaube, du meinst Himmel und Hölle…», ruft Walter, der zwei Jahre älter als Emilia ist, «ich spiele das auch immer gerne mit den Nachbarskindern!» Der Vater nickt zustimmend und fragt den achtzehnjährigen Urs: «Und? Wie war es auf der Arbeit?» «Wie immer, es ist nichts Spezielles vorgefallen. Nur wieder das übliche Geschimpfe über den Krieg und die Knappheit. Ich hoffe, dass es bald vorbei ist! Aber es sieht ja momentan nicht danach aus … Leider!» Dann verlief die restliche Mahlzeit ohne weitere Worte. Danach wurde gemeinsam der Abwasch erledigt und die beiden kleinen verschwanden in ihrem Zimmer. Nur Urs blieb noch in der Küche und berichtete der Mutter von der schlechten Neuigkeit, die er auf dem Nachhauseweg erfahren hatte: «Mama, die Kartoffelpreise sind schon wieder gestiegen! Sie kosten jetzt schon das doppelte wie letzte Woche! Wie sollen wir das nur bezahlen?» «Ich weiss es nicht!», klagte die Mutter den Tränen nahe.

Im Stall

«Ernst. Aufstehen! Du bist heute dran beim Melken zu helfen!» weckt Emil Jauslin, der einen beschaulichen Bauernhof in Muttenz bewirtet, seinen zweitältesten Sohn. Der 15-Jährige öffnet verschlafen die Augen, steht seufzend auf und sucht sich seine Kleider zusammen. Fünf Minuten später steht er neben seinem Vater an der Stalltür. Die beiden öffnen die Türe, treten ins Dunkel und warten, bis sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt haben, welches die Morgensonne, die durch ein kleines Fenster scheint, hervorruft. Sie verrichten ihre Arbeit und gehen zurück ins Haus, wo Hedwig Jauslin bereits das Frühstück vorbereitet hat. Während Ernst und Emil essen, weckt Hedwig ihre restlichen Kinder. Die 5-jährige Anna hüpft als Erstes in die Küche und man merkt ihr die Vorfreude auf die Schule förmlich an. Ganz im Gegensatz zu Hans, dem ältesten Sohn der Familie. Dem 16-Jährigen stinkt es gewaltig, so früh für die Schule aufstehen zu müssen. Er hätte gerne noch ein oder zwei Stunden länger geschlafen. Nach dem Essen packen die vier Kinder ihre Schulsachen und ziehen gemeinsam zur Schule. Freudig berichtet Emil seiner Frau, was er am Abend vorher von den Nachbarn vernommen hat: «Hedwig, hast du das mitbekommen? Die Kartoffelpreise sind weiter gestiegen! Sie sind jetzt schon doppelt so teuer wie letzte Woche!» «Das ist ja erfreulich!», entgegnet seine Frau, «aber wir sollten noch Kartoffeln zurückbehalten, vielleicht werden sie ja noch teurer!»

Auf der Strasse

Es ist Dienstag, der 21. Juli 1916. Paul Merter freut sich schon seit einer Woche auf genau diesen Tag; die Arbeiter der Seidenbandfabriken und auch andere Arbeiter haben beschlossen, an ebendiesem Tage zu einer Demonstration anzutreten. Er hofft sehr, dass die Politiker dazu gebracht werden können, dass sie die Teuerung stoppen. Er hat mit der Unterstützung seiner Tochter Rosa, die zeichnerisch sehr begabt ist, ein Plakat gemacht. Darauf sieht man eine hungernde Familie, genauer gesagt seine Familie, und die Aufschrift «Stoppt die Teuerung». Nach dem Feierabend trifft man sich in der Münzgasse, um dann gemeinsam zum Rathaus zu ziehen und sich bemerkbar zu machen. Immer wieder ertönt die Parole «Stoppt die Teuerung, lasst uns nicht verhungern!» aus dem Mund eines Demonstranten. Der Zug wird auf seinem Weg von vielen Menschen beobachtet, auch von Peter Merian.

 An der Bundesstrasse

Am Abend sitzt die ganze Familie Merian am Tische, während Erna das Abendessen, es gibt einen Braten, serviert. Albert stellt die traditionelle Frage: «Und Peter, wie war der Tag?» «Ganz gut», antwortet Peter, «Nach der Schule ging ich noch ein bisschen in die Stadt und da war heute eine Demonstration gegen die Teuerung. Da ist mir ein Mädchen aufgefallen! Es müsste etwa gleich alt sein wie ich und ist sehr hübsch. Sie hatte einen ganz besonderen Hut! Und das obwohl sie sicherlich aus einer Arbeiterfamilie stammt!» Erna steht, wie sonst auch immer, ruhig daneben, doch jetzt kann sie nicht warten: «Hatte der Hut eine vertrocknete Rose dran?» «Ja, das stimmt! Wieso?» antwortet Peter. «Dann muss es Rosa gewesen sein! Sie wohnen im selben Block wie ich, auf dem selben Stock. Ein nettes Mädel!» merkt Erna an. Doch dann unterbricht Albert das Gespräch: «Sie mag noch so nett und hübsch sein, aber du bist etwas ganz anderes als sie! Du kannst dich ihr nicht nähern, ohne dass du schräg angeschaut wirst! Du suchst sie nicht auf!»

Im Schlafzimmer

Peter Merian sitzt gedankenversunken in seinem Schlafzimmer am Schreibtisch. Gedankenversunken schreibt er einen Brief. Daneben einen Zettel für Erna: «Liebe Erna, kannst du diesen Brief deiner Nachbarin abgeben? Peter». Er schreibt, streicht durch, schreibt nochmal und streicht wieder. Bis er am Ende des Abends folgenden Brief fertig hat: «Liebe Rosa, wenn du gestern an dieser Demonstration gegen die Teuerung warst, ein Plakat gehalten hast und einen hübschen Hut mit einer vertrockneten Rose getragen hast, dann möchte ich dir mitteilen, dass du mir sofort aufgefallen bist. Sogar so fest, dass ich noch immer an dich denken muss! Und dann hat Erna, die dich wohl zu kennen scheint, so viel über dich erzählt! Nur leider…

Auf dem Bett

…hat mein Vater mir verboten, mich mit dir zu treffen. Auch dieser Brief muss geheim bleiben. Herzliche Grüsse Peter». Rosa liest den Brief fertig und faltet ihn dann leise seufzend zusammen. Wie gerne wüsste sie doch Genaueres über den Jungen, der ihr einen Brief schreibt. Und das, obwohl er aus einer reichen Familie kommt. Sie nimmt sich fest vor, Erna auszufragen, sobald sie sie das nächste Mal sieht!

In der Küche

Josephine Merter steht in der Küche und kocht Kartoffelsuppe, auch wenn sie nicht mehr so viele Vorräte haben. Bei diesem Gedanken kommen ihr Tränen. Rumms, schlägt die Wohnungstür ins Schloss. Paul kommt von der Arbeit nach Hause. Er sieht seine Frau tränenüberströmt am Kochherd stehen. Er legt ihr beruhigend den Arm auf die Schulter und fragt sie: «Schatz? Was ist los?» «Wir haben fast keine Vorräte mehr!», schluchzt sie, «und ich weiss nicht, wie wir uns neue leisten können!» Immer noch über die Schulter streichelnd antwortet Peter: «Wir haben in der Fabrik gemeinsam einen Brief an den Chef geschrieben, wo wir wegen der Teuerung eine Lohnerhöhung einfordern! Wir hoffen, er gewährt uns diesen Wunsch!» Dann betritt Rosa freudestrahlend die Küche. Sie bleibt sofort wie angewurzelt stehen, als sie ihre Eltern so betrübt sieht. Sie weiss von den finanziellen Problemen ihrer Familie durch die Teuerung. Deshalb dreht sie wieder um und verlässt leise den Raum und behält die doch sehr erfreulichen Nachrichten für sich.

Am Tisch

Rosa hat inzwischen Erna getroffen und sie durchlöchert. Sie hat zudem nach einem Bild gefragt, was sie auch gezeigt bekommen hat. Und sie war sofort restlos begeistert. Erna hat ihren Blick sogar als verliebt bezeichnet! Rosa sitzt nun am Tisch und schreibt einen Brief an Peter, worin sie ihm ihre Begeisterung über ihn bekunden will. Doch ihr fällt es schwer, die passenden Worte zu finden! Daher zeichnet sie erstmal eine vertrocknete Rose. Doch dann fallen ihr die passenden Zeilen ein: «Lieber Peter, Ich habe deinen Brief mit Freuden gelesen. Danach habe ich sofort Erna gebeten, mir ein Bild von dir zu zeigen. Danach hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Darum schreibe ich dir…

Im Ohrensessel

…und möchte dich fragen, ob es dir nicht irgendwie möglich ist, mich heimlich zu treffen. Ich würde mich sehr freuen! Ich habe nämlich etwas ganz Besonderes gespürt. Liebende Grüsse Rosa». Peter beendet mit einem Strahlen die Brieflektüre und ruft sofort Erna zu sich. «Was brauchst du von mir?», fragt diese. Peter antwortet: «Ich brauche deine Hilfe! Rosa hat in dem Brief, welchen du mir gegeben hast, geschrieben, dass sie mich heimlich treffen möchte und du könntest mir vielleicht dabei helfen! Hast du eine Idee, wo wir uns unbemerkt sehen können?» «Wie wäre es mit dem Park beim St. Johann?» schlägt Erna vor. Peter ist einverstanden, möchte aber noch wissen, was er ihr mitbringen soll. «Nichts Grosses» meint Erna, «ein Sack Kartoffeln würde ihr und der Familie grosse Freude bereiten! Bauer Jauslin hat die Pachtlieferung auf morgen angekündigt.» Peter macht sich sofort daran, ihr eine Antwort mit Zeit und Ort eines Treffens zu formulieren.

Im Claraviertel

Rosa tritt in die Wohnung ein, wo gerade ihre Mutter den Boden wischt. Der Mutter fallen sofort die Kartoffeln auf und sie fragt Rosa, von wo sie die denn habe. Rosa antwortet: «Ich habe mich vorhin mit einem Jungen getroffen, der mich bei der Demo vorletzte Woche gesehen und mir darauf einen Brief geschrieben hat. Und er hat mir heute diese Kartoffeln mitgebracht!» Die Mutter nimmt Rosa die Kartoffeln überglücklich ab und bringt sie in den Vorratsraum. Zumindest die nächsten Tage sind die Vorräte wieder gesichert!

Epilog

Wir schreiben den 31. August 1939. Albert und Elisabeth Merian sind seit nun etwa fünf Jahren gestorben. Beide innerhalb von einer Woche. Rosa Merian wohnt seitdem zusammen mit Peter in dessen Elternhaus, vor drei Jahren haben sie sogar geheiratet. Und nun sind die beiden seit zwei Wochen Eltern. Der kleine Joseph Merian ist gesund und munter auf die Welt gekommen, doch etwas trübt die Stimmung der frischgebackenen Eltern: «Peter, hast du nicht auch Angst vor dem, was im Deutschen Reich passiert?» fragt Rosa ihren Mann. «Doch» antwortet dieser, «ich hoffe nur, es gibt keinen Krieg! Und wenn, dann nicht so schlimm wie letztes Mal!»