Im Namen der Sozialdemokratie

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Allgemein, Archivpädagogik, Blogserie

Eine Erzählung von Dinis Figueiredo und Josia Lyrer, entstanden 2018 im interdisziplinären Projekt „Krieg und Krise in Basel“ der Klasse 2MS (Geschichte und Deutsch) im Gymnasium Muttenz. Als Ausgangsmaterial und Inspiration dienten Archivquellen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt.

Kapitel I

Heute kommt mein guter Freund Johannes Schmid zu Besuch. Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Sein Brief liegt seit Tagen auf meinem Schreibtisch. Ich nehme den Brief und lese wiederholt seinen Inhalt: „Mein guter Freund Manuel Lavater, in Deutschland hat sich vieles geändert seit Adolf Hitler Reichskanzler ist, und ich vermisse meine alte Stadt Basel. Zu lange sind wir uns jetzt ferngeblieben, wie damals zur Zeit des grossen Krieges. Erinnerst du dich noch daran? …“ Abrupt lege ich den Brief wieder auf den Schreibtisch, mache die Augen zu und denke zurück an diese Zeit.

Es war ein wunderschöner Sommertag, der 1. August, ein Samstag, im Jahr 1914. Johannes und ich kamen zusammen von unserer Arbeit in der Metallfabrik zurück nach Hause. Wir arbeiteten dort jeden Tag 13 Stunden lang, ausser am Sonntag. Das Geld, welches wir dadurch verdienten, reichte uns für die alltäglichen Bedürfnisse und ein kleines Zimmer im Arbeiterstadtviertel von Kleinbasel. Dieses Zimmer diente uns gleichzeitig als Schlafzimmer, Badezimmer und Küche. Ich konnte mit dem verdienten Geld auch meine Mutter und Schwester unterstützen, welche allein in einer heruntergekommenen Wohnung lebten. Sie arbeiteten seit dem Tod meines Vaters in einer Nähfabrik, damit sie zu mehr Geld kamen. Es waren zwar harte, aber schöne Zeiten.

Auf dem Nachhauseweg trafen wir viele verwirrte Leute. Überall, wo wir durchliefen, hörten wir nur von Krieg und möglichen Folgen für die Schweiz. Das Deutsche Reich hatte Russland den Krieg erklärt. Wegen dem Bündnis zwischen Frankreich und Russland war es uns allen klar, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis der Krieg auch an unsere Türe klopfen würde. Denn das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich war sehr angeschlagen. Neben der grossen Panik auf den Strassen hörten wir die Militärtrommeln der Schweizer Armee. Auf den Plätzen der Stadt wurde überall bekannt gegeben, dass die wehrfähigen Männer innerhalb der nächsten Tage längere Zeit ins Militär einrücken mussten. Der Landsturm (die 41- bis 48-jährigen Landesbürger) musste schon am gleichen Tag anrücken und direkt zum Jura, die Grenzen zu Frankreich bewachen. Der Auszug (20- bis 32-jährige Bürger), zu dem ich gehörte, und die Landwehr (33- bis 39-jährige Bürger) mussten erst am folgenden Montag, dem 3. August, anrücken. Ich blieb demnach noch zwei Tage in Basel. Mir und Johannes wurde es sehr unwohl zumute. Wir erkannten die Probleme, die aufkommen würden. Was würde aus unserer Wohnung werden? Wann würden wir uns denn wiedersehen? Johannes vermutete zudem, bald für die deutsche Armee aufgerufen zu werden. Es folgte eine schlaflose Nacht für uns beide.

Nach dieser schrecklichen Nacht beschlossen wir, am Morgen einen kurzen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Wir wollten die restlichen Stunden zusammen verbringen, die wir noch gemeinsam hatten. Wieder spürte ich die sich einschleichende Angst und Aufregung bei den Leuten, welche auch mich einnehmen wollten. Ich sah Johannes an und bemerkte, dass es ihm nicht anders ging. Wir gingen aber weiter in Richtung Marktplatz. Von dort aus hörten wir von Weitem schon laute Rufe. Am Marktplatz angekommen, sahen wir Männer in Uniformen. Es waren deutsche Boten. Das Deutsche Reich forderte die Teilnahme aller deutschen Staatsbürger am angebrochenen Krieg. Johannes wurde erklärt, dass er unverzüglich nach Freiburg reisen musste. Wir rannten nach Hause, damit er schnell packen konnte. Johannes sagte mir: „Unsere Wohnung muss aufgegeben werden und ich muss die Schweiz verlassen. Ich werde dir schreiben und deine Briefe abwarten. Ich hoffe, wir sehen uns an Weihnachten wieder, mein Freund, wenn die Russen und Franzosen besiegt sind. Und wenn wir uns nie mehr wiedersehen, dann muss ich sagen, dass es eine grosse Ehre war, dich kennengelernt zu haben.“ Mit einer starken Umarmung und mit Tränen in unseren Augen verabschiedeten wir uns. Mit dieser harten Verabschiedung machte ich auch mein Gepäck bereit. Am Abend ging ich dann zu meiner Familie. Meine Mutter und Schwester weinten, denn sie waren von nun an auf sich allein gestellt. Ich konnte ihnen nur etwas versprechen: „Ich werde die Grenzen unseres Landes verteidigen. Für Gott, Familie und Vaterland!“

Am folgenden Tag rückten die letzten Soldaten, mich einbegriffen, in die Basler Kaserne ein. Es war der Tag, an dem das Deutsche Reich Frankreich den Krieg erklärte. Von diesem Tag an begann eine grosse Panikperiode in Basel und in den umliegenden Regionen. Im damaligen Volksmund hiess es von da an nur noch: „Die Franzosen kommen!“ Die Bevölkerung befürchtete einen französischen Angriff auf die Schweiz, denn die Franzosen nahmen in Betracht, die Schweiz anzugreifen, um damit von der Schweiz aus ins Deutsche Reich einzudringen. In der Kaserne redeten die Offiziere uns die Gefahr der eingehenden Bedrohung ein und wiesen uns auf die Wichtigkeit unserer Aufgabe hin. Unter uns Soldaten entwickelte sich eine Bereitschaft für unseren Dienst, wie die Schweizer Soldaten sie wahrscheinlich in den letzten 50 Jahren nicht gekannt hatten. Es blieben nur wenige Stunden, bis mehrere Lastwagen uns abholten und in den Jura beförderten.

Anfangs waren wir Soldaten noch geradezu begeistert von unserem Dienst. Es gab noch niemanden, der dem harten Drill, den schlechten Nahrungsrationen und der langen Nachtwache etwas zu widersetzen hatte. Am wenigsten ich, denn mir lag das Soldatsein im Blut. Diese Begeisterung hielt eine Zeit lang an und wurde verstärkt, als die Franzosen am 9. August das südliche Elsass um Mülhausen geradezu vor unserer Nase angriffen und eroberten. Seitdem wurden unsere Tage und Nächte die ganze Zeit von Kriegslärm begleitet. Immer wieder mussten wir uns bereitstellen, wenn wir etwas von ganz nahe hörten. Schlaflose Tage und Nächte nahmen für uns Soldaten an der Zahl zu. Wir wussten, dass wir jetzt besonders parat sein mussten, falls die Franzosen wirklich auch uns angreifen würden. Ein Versagen konnten wir uns auf keinen Fall leisten, denn unsere Familien waren alle auf unseren Widerstand angewiesen. Es folgten noch einige Tage, welche uns Sorge bereiteten.

Doch plötzlich kam der Tag, an dem die deutsche Armee Fuss fasste und in spektakulärer Darbietung vor unseren Augen die Franzosen ihre Stellung verlieren liess. Die Deutschen rückten im Marschschritt vor und drängten die Franzosen Stück für Stück zurück. Schliesslich gelang es ihnen, die Franzosen vollends aus dem südlichen Elsass zu vertreiben und die Kriegsfront verlagerte sich Schritt für Schritt gegen Norden. Ein Jubel brach am Tag der deutschen Rückeroberung unter uns aus, denn von nun an war die französische Gefahr an unserer Grenze beseitigt.

Der August neigte sich dem Ende zu und der Drill der Offiziere schien immer schlimmer zu werden. Zwar war die Grenze wieder sicher, aber die Offiziere witterten immer noch Gefahr. Die Franzosen waren trotz ihrer Vertreibung immer noch präsent. Vor allem die Anhänger der Sozialdemokraten unter uns Soldaten entwickelten immer mehr eine Abneigung gegen das Militär. Uns Soldaten an der Grenze wurde durch Briefe von der schlimmen Lage unserer Familien berichtet. Manche Familienmitglieder konnten sich kaum noch den Lebensunterhalt leisten. Exmission und Mangelernährung, hiess es. Familien zahlreicher Soldaten wurden aus ihren Häuser rausgeschmissen, da sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Ausserdem waren die Familien gezwungen, beim Einkauf von Nahrungsmitteln zu sparen. Diese Lage resultierte daraus, dass unsere Familien auf sich allein gestellt waren. Wir verdienten in der Armee keinen Lohn, mit dem wir unsere Familien irgendwie unterstützen konnten. Dieses Übel traf auch meine Familie. In diesen Tagen erhielt ich einen Brief von meiner Mutter. Sie erzählte mir darin, dass auch sie und meine Schwester seit meiner Abwesenheit stark zu leiden hatten. Auch sie mussten ihren Nahrungsmittelkonsum stark einschränken, um ihre Miete gerade noch zahlen zu können. Gewisse Lebensmittel verteuerten sich, aufgrund von hamsternden Einkäufern und geldgierigen Zwischenhändlern, welche die prekäre Lage zu ihren Gunsten ausnutzten. Meine Mutter und Schwester benötigten Hilfe und baten auch darum.

Der Brief traf mich wie ein Blitzschlag. Schmerz und Ärger erfüllten mich. Ich konnte nichts für sie tun und sie wussten das auch. Dieser Brief stellte mir eine Welt auf den Kopf. Die Armee, welcher ich anfangs so sehr mit Begeisterung gedient hatte, war der Grund für das Übel meiner Familie. Ich begann daraufhin, eine Abneigung gegen das Militär und gleichzeitig eine Zuneigung zu den Sozialdemokraten zu entwickeln. Sie waren die Ersten, welche das Militär verpönten, und dies, wie die Soldaten das anerkennen mussten, auch zu Recht. Ständig redeten sie hinter dem Rücken der Offiziere gegen das Militär. Es waren viele in unserer Kompanie, welche diese Meinung vertraten. Anfangs vermied ich den Verkehr mit diesen Leuten. Sie schienen in meinen Augen schon fast Landesverräter zu sein. Doch nun kam es dazu, dass auch ich mit ihrer Gesinnung konfrontiert wurde. Ihre Forderungen nach Gleichberechtigung zwischen Arbeitern und Fabrikbesitzern faszinierten mich. In meiner Zeit in der Metallfabrik hatte ich es nie gewagt, an so etwas zu denken. Zu sehr wurde ich von meinem Arbeitsgeber unterdrückt. Wir Arbeiter hatten weder Recht auf Wünsche noch auf Mitsprache. Der Arbeitgeber befahl, und wenn die Arbeit nicht genau nach seinem Willen ausgeführt wurde, folgten Konsequenzen in Form von Überstunden und Lohnkürzungen. Nun kamen die Sozialdemokraten. Sie waren die Draufgänger der Arbeiterschaft. „Alles kann besser werden“, sagten sie. „Wir Arbeiter müssen uns einfach vereinen und uns gegen die Besitzenden wehren.“ Mit ihren ausdrucksstarken Reden gelang es ihnen, mich auf ihre Seite zu ziehen. Schliesslich schloss ich mich ihnen an.

Kapitel II

Am 5. September riefen die Franzosen alle ihre Soldaten auf, unverzüglich zum Fluss Marne heraufzuziehen. Die Deutschen lagen dort kurz vor Paris. Folglich endete für uns jegliche Bedrohung durch die Franzosen, denn sie befanden sich kurz vor einer Niederlage. Sie waren deshalb endgültig nicht mehr in der Lage, die gefürchtete Offensive gegen die Schweiz auszuführen. Nun verlor auch der Letzte die Furcht vor einem französischen Angriff.

Die Lage bei uns verbesserte sich ein wenig. Nichtsdestotrotz nahm das sozialdemokratische Denken in meinem Kopf Gestalt an. Die kleinen Versammlungen, die von den Sozialdemokraten organisiert wurden, sprachen die Probleme an und liessen Hoffnung aufkeimen. Wir dachten uns Parolen aus, welche wir ständig ausriefen, um unsere Genossen für die Probleme zu sensibilisieren. Oft entstanden Diskussionen und Auseinandersetzungen mit Andersgesinnten. Dabei wurde schrittweise mein Wille erweckt, in die Politik einzutreten. Ich brillierte mit einer guten Redekunst. So gelang es mir, andere Soldaten für die Sozialdemokraten zu gewinnen. So stieg mein Ansehen unter den Sozialdemokraten und ich wurde vollkommen integriert. Das führte dazu, dass mir ein Mann vorgestellt wurde. Er hiess Peter Meier und galt damals als ziemlich hoch angesehener Sozialdemokrat. Mit ihm verstand ich mich von Anfang an gut. Schliesslich wurden wir gute Freunde und vertieften uns während der Dienstzeit im Jura immer wieder in Gespräche. Eines Tages, es war Anfang Oktober, erzählte er von einem russischen Politiker namens Wladimir Iljitsch Lenin und seinen Mitstreitern, welche in Bern ein Gesuch für einen Aufenthalt in der Schweiz gestellt hatten. Dieser Politiker verfolgte die Interessen der Sozialdemokraten, jedoch in einem sehr radikalen Ausmass. In ihm sahen die Sozialdemokraten eine neue Unterstützung. Peter Meier kannte Robert Grimm, das Oberhaupt der Schweizer Sozialdemokraten, persönlich und war deshalb über die Vorhaben und Geschehnisse rund um die Sozialdemokraten informiert.

Von da an blieb ich nicht mehr lang im Jura, denn meine und Peters Dienstzeit für das Militär endete bald. Peter freute sich darüber und forderte mich auf, mit ihm nach Bern zu kommen. Er wollte aus mir einen sozialdemokratischen Politiker formen. Vorerst wollte ich nicht. Ich dachte an meine Familie, welche in Basel mit solch vielen Problemen konfrontiert war. Doch Peter erklärte mir die Wichtigkeit dieser Angelegenheit: „Bern ist das Zentrum der Sozialdemokratie. Dort wirst du dein ganzes Potenzial ausschöpfen können. Ich werde dich in Bern mit Robert Grimm und den anderen Sozialdemokraten bekannt machen. Manuel, ein ausgerollter Teppich liegt vor dir!“ Er machte mir klar, dass dies die einzige Möglichkeit für mich wäre. Ich wusste, wenn ich da nicht einwilligen würde, dann würde es für mich kein Zurück mehr geben. So kam ich nach Bern.

Kapitel III

Es war der 20. Oktober, als wir in Bern ankamen. Peter bot mir ein kleines Zimmer in seiner Wohnung an. Er hatte schon eine eigene Familie. Aber er war auch einige Jahre älter als ich. Peter verdiente sehr gut im Gegensatz zu vielen anderen Arbeitern, da er Mitredaktor unter Robert Grimm beim Flugblatt „Berner Tagwacht“ war. Ich wurde von ihm versorgt mit allem, was ich brauchte. Doch die ersten Tage in Bern waren sehr langweilig. Peter versprach mir möglichst bald, Robert Grimm vorzustellen, damit ich eine Arbeitsstelle bei der Sozialdemokratischen Partei erhalten würde. Es folgten noch einige Tage, bis ich die Ehre erhielt, Robert Grimm kennenzulernen.

Peter nahm mich in ein grösseres Gebäude mit. Es war das Parteigebäude der Sozialdemokraten. Robert Grimm empfing uns in seinem Büro. Sofort begrüsste Peter ihn mit den Worten «Fründschaft». Es handelte sich dabei um den üblichen Gruss der Sozialdemokraten. Ich folgte den Worten Peters, indem ich meine Hand zur Begrüssung auf den Kopf hob und ebenfalls «Fründschaft» rief. Robert Grimm erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und erwiderte freundlich unsere Begrüssung. Er sah mich an und sprach zu mir: „Du bist also Manuel. Peter hat mir schon viel von dir erzählt und wenn das stimmt, was er sagt, bist du der geeignete Mann für uns. Reden kannst du ja schon. Jetzt muss dir Peter noch zeigen, wie man das Gesagte aufs Papier bringt. Willkommen bei den Sozialdemokraten!“ Es fiel mir ein Stein vom Herzen, als ich diese Worte hörte. Robert Grimm reichte mir die Hand und gab mir sofort eine Arbeitsstelle in seiner Redaktion. Ausserdem teilte er mir die Aufgabe zu, ihn bei seinen Geschäften und Reden zu begleiten: „Du hast noch viel zu lernen, Manuel. Jeder von uns hat klein angefangen. Indem du mich begleitest, wirst du am schnellsten lernen, ein grosser Sozialdemokrat zu werden.“

Von diesem Tag an ging es für mich steil bergauf. Es folgten nur noch spannende und volle Tage. Robert Grimm war ein sehr beschäftigter Mann. Er war gleichzeitig Chefredaktor der «Berner Tagwacht» und Nationalrat. Er traf sich mit Schweizern und ausländischen Politikern sowie mit vielen Gewerkschaftsführern. Teilweise hatte er stundenlange Gespräche mit ihnen. Er befahl mir, immer aufmerksam zu sein, damit ich alles mitbekommen würde. Oft war er auch in seiner Redaktion, wo er Berichte analysierte und korrigierte. Er gab den Texten den endgültigen Feinschliff, bevor sie ihren Platz in der «Berner Tagwacht» erhielten. Mir gab er das Recht, ihn bei Unklarheiten jederzeit zu fragen, allerdings nur, wenn die Situation es zuliess. Am meisten gefiel es mir, bei seinen Reden dabei zu sein. Sie inspirierten mich und ich sah, wie gut sie bei uns Gleichgesinnten ankamen. Einmal in der Woche traf ich mich zudem mit Peter, der mich im Schreiben unterwies. Das Schreiben war meine Schwäche, denn ich hatte das Schreiben vorher nie in dem Ausmass gelernt, wie es die Redaktionsmitglieder beherrschten. Mehrere Wochen und Monate verbrachte ich so und tatsächlich verbesserte ich meine Fähigkeiten. Robert Grimm erkannte das und beschloss, dass ich bald selber solche Aufgaben verrichten sollte. Ausserdem zog er mich immer mehr ins Vertrauen und bald stellte er mir ein gutes Einkommen zur Verfügung. Ich konnte nun für mich eine eigene kleine Wohnung mieten und selbst für meinen Unterhalt aufkommen. Es war ein gutes Gefühl, nicht mehr ein Mündel von Peter zu sein. Endlich stand ich wieder auf eigenen Füssen. Trotzdem war es schade, Abschied von der mir wohlbekommenen Familie von Peter zu nehmen. Peter selbst sah ich von da an nur noch bei der Arbeit.

Ein sehr spezieller Tag für mich ereignete sich kurz vor Weihnachten. Robert Grimm benachrichtigte mich darüber, dass er ein Treffen vereinbart hatte. Ein Treffen mit einem Exilrussen namens Lenin. Er forderte von mir, zu diesem Treffen zu erscheinen, und erklärte mir, dass dieses Treffen sehr wichtig sei. Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Peter. Dieser russische Politiker war für uns ein wirkliches Rätsel gewesen. Und nun kam es so weit, dass ich ihn sehen würde. Am Abend des gleichen Tages trafen wir uns in einem Zimmer des Parteigebäudes. Robert Grimm und ich sassen Lenin und zwei anderen Russen gegenüber. Sie konnten sich für ihre kurze Aufenthaltsdauer in der Schweiz sehr gut auf Deutsch verständigen. Einer von ihnen konnte sogar fliessend sprechen und übersetzte bei Missverständnissen. Lenin schien auf den ersten Blick ein sehr ruhiger Mann zu sein. Er reichte uns die Hand und begrüsste uns mit einem leisen, aber deutlichen «Freundschaft». Seine Genossen folgten darauf und Robert Grimm und ich erwiderten ihre Begrüssungen. Anschliessend ging es sofort zur Sache. Lenin erzählte uns, weshalb er in die Schweiz gekommen war. Er war ein Gegner des Zaren und hatte nach einem Reich der Arbeiterschaft in Russland gestrebt. Er hatte eine revolutionäre Truppe um sich geschart. Mit dieser hatte er versucht, den Zaren zu stürzen. Jedoch hatte er eine Niederlage gegen den Zaren erlitten und war deshalb ins Exil geflohen. Lenin war Feuer und Flamme für den revolutionären Krieg, den er als einziges Mittel sah, wie die Arbeiterschaft an die Macht kommen sollte. Lenin sprach bewusst von der Arbeiterschaft und nicht von der Sozialdemokratie, denn seine Meinungen grenzten sich klar von ihr ab. So war Lenin das Oberhaupt einer eigenen Partei, der Partei der russischen Bolschewiken. Wir die Sozialdemokraten und Lenin, hatten dasselbe Ziel und standen beide für die Arbeiterschaft. Doch die Wege, welche wir einschlagen wollten, um dieses Ziel zu erreichen, waren komplett verschieden. Während Lenin sehr revolutionäre Gedanken hatte, wollten wir eine friedliche und demokratische Machtübernahme erreichen. Diese Differenzen zwischen den Ansichten Lenins und Robert Grimms verhinderten einen festen Zusammenschluss beider Parteien. Das Gespräch zeigte, dass eine Zusammenarbeit schwierig sein würde, was sich später auch als Wirklichkeit erwies. Robert Grimm und Lenin wurden nie richtige Freunde.

Nach dem Gespräch kamen die zwei Begleiter Lenins zu mir und stellten sich mir genauer vor. Sie hiessen Dimitri und Ivan. Dimitri erzählte mir, dass er früher schon in der Schweiz gelebt hatte. Das erklärte sein gutes Deutsch. Ivan hingegen war genauso wie Lenin vorher noch nie in der Schweiz gewesen. Sie beide machten mir einen sehr freundlichen Eindruck und bald begannen wir, immer wieder etwas zusammen zu unternehmen. Robert Grimm hielt sehr wenig von meiner Freundschaft mit den Russen. Immer wieder redete er mir ein, mich von ihnen fernzuhalten. Ich glaubte, er fürchtete, dass ich wegen ihnen zur Seite von Lenin wechseln könnte. Dimitri und Ivan waren Lenin gegenüber nämlich sehr treu. Immer wenn wir zusammen unterwegs waren, sprachen sie in höchsten Tönen von ihm. Und es war offensichtlich, dass sie mich für den Bolschewismus gewinnen wollten. Robert Grimm hatte also vollkommen Recht. Jedoch war mir das eigentlich ziemlich egal, denn sie waren wirklich gute Freunde zum Ausgehen. An den Abenden trafen wir uns immer wieder und plauderten über die vergangenen Geschehnisse. Wir tauschten uns über die Vorhaben unserer jeweiligen Parteiführer aus. Wenn es sich ergab, tranken wir auch manchmal von ihrem speziellen Getränk, welches sie Wodka nannten. Um ehrlich zu sein, tranken hauptsächlich sie, denn diese russische Brühe war für mich nur mit grössten Schwierigkeiten runterzukriegen, weshalb ich eigentlich gerne darauf verzichtete. Aber Dimitri und Ivan schafften es immer, mir ein paar Gläser aufzuschwatzen.

Diese speziellen Abende nahmen mit der Zeit an ihrer Zahl zu. So kam es, dass sich meine Leistungen in der Redaktion verschlechterten. Peter verzweifelte, wenn er mir dort etwas zu erklären versuchte. Und wenn ich Robert Grimm irgendwo hinbegleitete, bemerkte er meine schlechte Aufmerksamkeit. Immer wieder mahnte er mich, ich solle mich konzentrieren. Jedoch hatte er damit keinen Erfolg. Weil ich nicht vorhatte, mit diesen speziellen Abenden aufzuhören, stellte mir Robert Grimm ein Ultimatum: „Manuel“, sagte er mit ernsten Worten, wie ich sie zuvor noch nie von ihm gehört hatte, „wenn du nicht sofort aufhörst, dich mit diesen verrückten Russen zu treffen, werde ich dich sofort entlassen. Du kannst dann in dieses Loch zurückkehren, von wo du gekommen bist. Vergiss ja nicht, warum du hier bist. Du stehst im Dienst der Sozialdemokratischen Partei! Deine Aufgabe ist es, den Namen der Sozialdemokratie gross zu machen und ihn nicht hinter jeder Ecke in den Schmutz zu ziehen.“ Ich nahm seine Warnung ernst und zog mich von Ivan und Dimitri zurück. Sie nahmen dies sehr schlecht auf und sahen in mir schliesslich nur noch einen heuchlerischen Verräter. Es war ein kurzer Schmerz, den ich deswegen erleiden musste. Aber langfristig hatte dies gute Folgen. Es war schon Sommer 1915, als dies geschah.

Ich enttäuschte Robert Grimm nicht mehr. Ich folgte immer seinem Willen und erfüllte die Aufträge nach seinen Vorstellungen und noch darüber hinaus. Dafür erhielt ich von ihm seine Anerkennung. Er weihte mich immer in seine Pläne ein und übergab mir auch mehr Verantwortung in der Redaktion. Es ging nicht mehr lange, bis ich dort Peter gleichgestellt war. Er freute sich nicht wirklich darüber, denn es war nun mal eine Tatsache, dass er mir im Schreiben überlegen war. Ich brillierte dafür mit meinen Ideen. Dessen ungeachtet lagen meine Stärken weniger im Schreiben, sondern im Reden. Robert übergab mir an Anlässen immer wieder das Wort und ich genoss die Zustimmung, welche ich bei meinen Reden vom Publikum immer wieder empfing. Es war schön, an Roberts Seite zu sein. Mit der Zeit erkannten wir auch, dass sich unsere Bemühungen lohnten, denn viele Leute aus der Arbeiterschaft schlossen sich uns Sozialdemokraten an. Dieser Anschluss rührte daher, dass zu jener Zeit viele Menschen in der Schweiz aufgrund der steigenden Nahrungsmittelknappheit zu leiden hatten. Wir gaben ihnen Hoffnung und versprachen, den Reichen das Geld aus den Taschen zu ziehen. Robert organisierte zudem zwei grosse internationale Treffen in Zimmerwald und in Kiental, bei denen Sozialisten aus dem ganzen europäischen Raum teilnahmen. Auch Lenin war dabei. Die Frage war dort immer, wie der Klassenkampf zwischen Arbeiter und Kapitalisten angeregt werden könnte, denn die Mehrheit verabscheute den laufenden Krieg und erhoffte sich durch einen politischen Klassenkampf in den jeweiligen Ländern den Frieden zwischen den Kriegsparteien zu erzwingen. In der Zimmerwald-Konferenz schlug Lenin vor, europaweit Revolutionen zu organisieren. Er erhielt von einigen Teilnehmern dafür auch Zustimmung. Doch bei der folgenden Abstimmung wurde sein Vorschlag abgewiesen. Dennoch waren wir uns einig, dass etwas getan werden musste. Die Regierungen sollten ein für allemal entmachtet werden. Robert Grimm stieg durch seine organisierten Konferenzen zu einem international geachteten Politiker auf. Er wurde zum Führer der Anti-Kriegslinken und setzte sich nun das Ziel in den Kopf, den Krieg zugunsten der Sozialdemokraten zu beenden. Ich setzte mich zu jener Zeit vollkommen für die Sozialdemokratie ein und sah diese auch als meine grosse Hoffnung für alles an. Doch während dieser Zeit vergass ich alles andere. Die Personen meiner Vergangenheit. Meine Mutter und meine Schwester. Es war so, als hätten sie nie existiert. Sie wussten nicht einmal, dass ich in Bern lebte. Und Johannes? Von ihm hatte ich seit Kriegsbeginn nichts mehr gehört. Wir hatten uns doch versprochen, Briefe zu schreiben. Aber welche Briefe? Auch ihn hatte ich völlig vergessen.

Kapitel IV

Die Jahre vergingen schnell. So kam es zu dem Tag, als die russische Revolution ausbrach. Es war März 1917. Robert Grimm sah seine Chance gekommen. Er sagte mir, dass diese Revolution die Möglichkeit war, um einen Frieden zu erreichen. So kam es dazu, dass Robert Grimm im Geheimen Pläne schmiedete, um diese Ziel zu verfolgen. Er näherte sich dabei dem Schweizer Bundesrat und Aussenminister Arthur Hoffmann an. Es kam sogar ein Treffen zwischen ihnen und einem deutschen Diplomaten zustande. Jedoch bekam ich nur sehr wenig davon mit, denn Robert versteckte seine geheimen Pläne vorerst auch vor mir.

Es war an einem privaten Treffen im Parteigebäude, wo nur er und ich teilnahmen, als er mich einweihte. Robert hatte tatsächlich vor, nach Russland einzureisen. „Manuel“, sagte er, „die russische Arbeiterschaft hat es geschafft, den Zaren zu stürzen. Das russische Volk hat den Krieg satt. Nun hat sich dort eine neue Regierung gebildet. Ich werde nach Russland reisen und die Russen überzeugen, die Waffen niederzulegen. Das ist meine Mission. Arthur Hoffmann hat mir den Rücken gestärkt. Mit ihm ist es mir gelungen, das Deutsche Reich zu überzeugen, an diesem geplanten Separatfrieden mit Russland teilzunehmen, denn die Deutschen haben schon genug Schwierigkeiten im Westen. Mit dem Vorwand, die Rückkehr einiger Exilrussen vorzubereiten, werde ich nach Russland reisen, denn weil der Zar gestürzt ist, können sie wieder in ihre Heimat zurückkehren.“ Ich erstaunte, als ich das hörte und fragte: „Meinst du mit den Exilrussen auch Lenin?“ Robert antwortete mir: „Nein, denn es gibt genug andere Russen, welche vor dem Zaren geflüchtet sind. Lenin würde mir bei dieser Mission nur gefährlich werden. Er hat seine ganz eigenen Pläne im Kopf.“ Kurz nachdem Robert ausgesprochen hatte, sah ich vor dem Zimmereingang zwei Schatten. Es waren Dimitri und Ivan. Ich wies Robert auf die Schatten hin und sofort rannten wir zum Türeingang. Doch wir stellten fest, dass niemand mehr dort war.

Einige Tage danach meldete sich Lenin bei Robert Grimm. Dimitri und Ivan hatten es tatsächlich geschafft, das ganze Gespräch mitzuhören und gaben Lenin über alles Bescheid. Lenin kam zum Parteigebäude und suchte das Gespräch mit Robert. Ich war dabei, als sie miteinander schliesslich redeten. Lenin forderte Robert Grimm auf, ihn als Exilrussen auf die Reise mitzunehmen. Zudem spottete Lenin über das Vorhaben von Robert: „Du kannst ja nicht einmal Russisch!“, sagte Lenin und lächelte. „Glaub mir. Du wirst mich noch gut an deiner Seite gebrauchen können.“ Lenin versuchte darauf auch noch, Robert zu erpressen: „Wenn du mich nicht mitnimmst, Robert, werde ich dafür sorgen, dass die ganze Weltöffentlichkeit von deiner lausigen Idee Wind bekommt.“ Robert gelang es trotz der angespannten Situation, ruhig zu bleiben: „Mein lieber Lenin“, sagte er mit einem Grinsen, „dir verrücktem kriegstreiberischen Russen glaubt doch sowieso niemand. Die Leute werden sagen, du hättest dir das nur ausgedacht, um irgendwelche verrückte Pläne verwirklichen zu können. Sie werden es als irgendeine Verschwörungstheorie abstempeln und du wirst lächerlich gemacht werden. Dann können du und deine Bolschewikenfreunde schauen, wie ihr zurechtkommt.“ Lenin wurde daraufhin sehr zornig und drohte uns mit schwerwiegenden Konsequenzen. Robert freute sich aber. Im überheblichen Ton meinte er, dass diese Angelegenheit geklärt sei. Ich staunte nur über die brillante Abweisung. Robert und ich vertieften uns anschliessend in mehrere Gespräche über das Vorgefallene.

Es wurde Nacht, als ich das Parteigebäude verliess. Auf dem Nachhauseweg lagen verlassene Gassen und Strassen vor mir. Nachdem ich eine Weile unterwegs und kurz vor meiner Wohnung war, sah ich plötzlich Dimitri und Ivan vor mir. „Manuel!“, riefen sie und näherten sich mir. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Doch als sie schon nah bei mir standen, spürte ich plötzlich eine Faust im Gesicht. Ich fiel zu Boden und Ivan rückte eine Pistole heraus. Ich zitterte nur noch. „Kaum hält man diesen Sozialdemokraten eine Pistole vors Gesicht, zittern diese Möchtegernhelden“, spottete Ivan. Nun ergriff Dimitri das Wort: „Du Abschaum von einem Sozialdemokraten. Wie kann es dein Chef wagen, Lenin derart abzuweisen?“ Ich vermochte es nicht, ihm zu antworten. „Eigentlich wollten wir dich dreckigen Verräter längst abknallen. Doch wir geben dir eine Chance. Sorge dafür, du erbärmlicher Hund, dass dein Chef seine Meinung ändert, sonst wirst du nicht mehr lange leben. Haben wir uns verstanden?“, fragte Dimitri. Mit einem schwachen Kopfnicken bejahte ich seine Frage. Doch er trat mit seinem Fuss auf meinen Kopf und drückte ihn runter. „Antworte richtig!“, sagte er. „Ich will etwas hören.“ – „Ja!“, sagte ich, so gut ich konnte. „Gut so, Manuel“, sagte Dimitri. „Und damit du weisst, dass wir es ernst meinen, geben wir dir noch ein Souvenir, welches dich an unsere Abmachung erinnern soll.“ Ivan riss mir meinen Mantel und meine Oberkörperbekleidung vom Leib. Danach nahm er seine Zigarre und drückte sie mir auf den Rücken. Ich schrie, doch dann spürte ich eine zweite Faust und fiel in Ohnmacht.

Als ich aufwachte, war ich in meiner Wohnung. Die Gewalttat hatte ihre Wirkung auf mich. Aus Furcht vor Dimitri und Ivan suchte ich mehrmals das Gespräch mit Robert. Ich versuchte ihn davon zu überzeugen, Lenin mitzunehmen. Doch er wollte nicht auf mich hören. Schliesslich, in einem weiteren Gespräch, zeigte sich Robert mir gegenüber plötzlich offener: „Vielleicht hast du Recht, Manuel“, sagte er, „Lenins angedrohte Konsequenzen könnten wirklich schlimmer sein, als ich angenommen habe.“ Ich bestätigte ihn und wies darauf hin, dass Lenin ihm wirklich noch nützlich sein könnte. Schlussendlich liess sich Robert doch noch überzeugen und beschloss Lenin mitzunehmen. Als Lenin das mitbekam, suchte er Robert sofort im Parteigebäude auf. „Freundschaft“, rief er und lief sofort zu Robert. „Ich freue mich, dass du dich für das Richtige entschieden hast.“ Mir wurde übel, als ich das hörte. Doch meine Angst vor Lenins Komplizen hielt mich gefangen. Robert und Lenin klärten darauf noch ab, wie die Reise verlaufen würde und was genau alles getan werden müsste, um das Ziel des geplanten Friedens zu erreichen. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie ihre Reise starten würden. Bevor sie losgingen, suchte mich Robert Grimm noch für ein letztes Gespräch auf: „Ich bin dankbar, dich als treuen Freund an meiner Seite zu haben. Du hast wirklich viel gelernt und ich bin wirklich stolz auf dich. Bevor ich meine Reise antrete, möchte ich dir eine Aufgabe übergeben. Kehre zurück in deine Heimatstadt Basel. Doch kehre nicht zurück als der, der du warst, sondern als ein neuer Manuel. Ein Manuel, der stark ist und sich für die Arbeiterschaft einsetzt. Mach den Namen der Sozialdemokratie gross. Ich setzte dich nun dort ein, um die Sozialdemokraten in Basel für die Nationalratswahlen anzuführen. Du sollst dort mit den anderen Politikern in Basel Kontakt aufnehmen. Ich habe dem Politiker Friedrich Schneider ein Schreiben gesendet, welches ihn über dich informiert. Du sollst dich mit ihm bekannt machen und mit ihm zusammen für den Kanton Basel-Stadt in den Nationalrat eintreten. Hier gebe ich dir seine Adresse. Brich sofort nach Basel auf. Wenn ich erfolgreich von Russland zurückkomme, werde ich dir den Rücken stärken. Wir wollen eine Schweiz, die der Arbeiterschaft gehört. Eine Schweiz, die keinen Krieg führt und keine Armee braucht. Manuel, merk dir das. Ich vertraue dir! Du kannst das!“ Mit einer kräftigen Umarmung trennten wir uns.

Ich nahm seinen Auftrag ernst und ging danach auch unverzüglich zu meiner Wohnung, um mich parat zu machen. Doch als ich ankam, bemerkte ich, dass jemand schon drin war. Ich befürchtete das Schlimmste. Ich wollte gerade wieder gehen. Doch es war zu spät. Dimitri kam heraus und zückte seine Pistole. „Gut gemacht, Manuel“, sagte er. „Du hast deine Abmachung gehalten. Nun, es gibt aber ein klitzekleines Problem. Lenin hat uns beauftragt, hier in der Schweiz eine Revolution nach dem Vorbild der russischen Revolution zu organisieren. Doch da wir eben Russen sind, wissen wir nicht ganz genau, wie wir das hier in der Schweiz anstellen sollen. Darum brauchen wir dich, Manuel. Du musst uns helfen. Dein Pech und zugleich unser Glück ist es, dass du keine Wahl hast.“ Ich bemerkte, dass Ivan immer noch in der Wohnung war. So nutzte ich die einzige Chance, die ich hatte. Ich schritt näher zu Dimitri und fragte ihn: „Wie kann ich euch denn dabei helfen?“ Dimitri antwortete: „Ganz einfach. Du holst die Sozialdemokraten auf die Seite von Lenin und stachelst sie zum Aufstand gegen die Kapitalisten an. Du bist ja ein guter Redner.“ Wieder näherte ich mich Dimitri. Es lag nur noch ein Schritt Entfernung zwischen uns. „Das kann schwierig werden“, sagte ich. „Du weisst ja, Dimitri. Wir Sozialdemokraten haben wenig mit Revolutionen und Bürgerkriegen am Hut. Wie der Name schon sagt, berufen wir uns auf die Demokratie. Unsere Ziele wollen wir demnach auch mit demokratischen Mitteln erreichen.“ Noch bevor Dimitri antwortete, griff ich seine Hand und entwaffnete ihn. Nun war ich der, der die Pistole hielt. „Das hast du nicht erwartet, oder?“, fragte ich ihn. Sofort schrie er nach Ivan, aber ich schlug ihn sogleich zu Boden. Ivan liess nicht lange auf sich warten und ich hörte ihn schon kommen. Ich rannte schleunigst davon, denn obwohl ich im Militär kämpfen gelernt hatte, wollte ich mich nicht auf einen Kampf einlassen. Gott sei Dank hatte ich meinen Geldbeutel bei mir. Das Geld, das ich dort hatte, reichte gut aus, um mir ein Zugticket nach Basel zu kaufen und im Notfall auch irgendwo unterzukommen. Ich wollte Bern hinter mir lassen und in Basel neu anfangen.

Kapitel V

Es war der 7. April 1917. Der Zug, in dem ich reiste, fuhr in den Basler Bahnhof an. Lange war es her, dass ich in Basel gewesen war. Doch als ich ausstieg, erkannte ich nicht mehr die blühende Stadt, die Basel einst gewesen war. Der Krieg und der Hunger mussten Basel sehr zugesetzt haben. Tatsächlich herrschte in der Stadt zu dieser Zeit eine grosse Hungerkrise. Die Lebensmittelpreise waren extrem hoch. So musste ein grosser Bevölkerungsteil seinen Nahrungskonsum einschränken. Das erkannte man auch auf den Strassen. Es liefen abgemagerte Menschen herum und an fast jeder Ecke sass ein Bettler, der um Almosen bat. „Basel“, dachte ich mir, „du hast dich verändert …“ In diesem ganzen Elend wurde ich von meiner Vergangenheit eingeholt. „Meine Familie“, dachte ich traurig, „ich habe dich im Stich gelassen während all dieser Zeit.“ Ein Schmerz erfüllte mich. Ich wollte aufschreien. Ich hoffte, es sei ihnen gelungen, in diesem Elend auszuharren. Ich lief zur alten Wohnung meiner Familie. Tatsächlich sah ich an der Adresse, dass meine Mutter und Schwester noch dort wohnten. Ich stand vor der Tür. Doch irgendetwas in mir wollte verhindern, dass ich anklopfte. Es war meine Scham, die mich zurückhielt. Diese Scham in mir hinderte mich daran, meine Fehler wiedergutzumachen. Ich klopfte mich an meine Brust und überwand mit grosser Mühe diese Scham. Ich klopfte an. Es ging nicht lange und ich sah, wie die Tür langsam aufging. Plötzlich erkannte ich meine Mutter. „Manuel“, sagte sie. Sie wiederholte es und brach in Tränen aus: „Wo warst du, Manuel? Wo warst du?“ Ich erkannte nun meine ganzen Fehler. Es kam mir alles herauf. „Es tut mir leid, Mutter. Es tut mir leid“, ich schrie und fiel zu Boden. Noch nie hatte ich solch einen Schmerz und solches Leid in mir gespürt. Meine Augen wurden feucht und ich blieb am Boden liegen. Aber meine Mutter hob mich auf. „Manuel“, sagte sie, „es sind Tränen, ja. Aber es sind Tränen der Freude, die ich habe. Ich verzeihe dir alle deine Fehler, mein Sohn. Deine Rückkehr lässt mein Herz wieder voll erquicken.“ Nun kam auch meine Schwester dazu. Auch sie verzieh mir meine Fehler und freute sich riesig über meine Rückkehr. Ich war überwältigt von der Liebe, welche meine Familie für mich fühlte. Sie liebten mich, obwohl ich sie im Stich gelassen hatte. Meine Mutter und meine Schwester erzählten mir, wie sie die ganze Zeit hier in Basel durchgehalten hatten. Sie hatten immer kämpfen und alle ihre alltäglichen Bedürfnisse stark einschränken müssen. Die Wohnung, in der sie lebten, war aufgrund ihres prekären Zustandes für sie zahlbar gewesen. Jedoch hatte meine Familie in dieser heruntergekommenen Wohnung über die Winterzeiten gefroren. Ich erzählte ihnen von meiner Laufbahn in der Sozialdemokratischen Partei und von meinem Auftrag, welchen ich in Basel zu erfüllen hatte. Ich versprach nun meiner Familie, sie so gut wie möglich zu unterstützen. „Das Elend, welches unsere Stadt und euch alle befallen hat, habe ich nun gesehen“, sagte ich ihnen, „aber glaubt mir. Ich werde alles ändern. Wir Sozialdemokraten werden den Reichen das Geld aus den Taschen ziehen und es den Armen geben. Wir werden einen sozialen Ausgleich schaffen, so dass keiner mehr hungern muss; so dass kein einziger Bettler mehr auf den Strassen zu sehen ist.“ Ich sah, wie in meiner Mutter und meiner Schwester Hoffnung aufkeimte. Wir Sozialdemokraten brachten den Armen und den Schwachen Hoffnung. Anschliessend vertieften wir uns in viele Gespräche, denn es gab nach der langen Zeit wirklich sehr viel zu erzählen. Ich übernachtete schliesslich bei ihnen und am nächsten Morgen brach ich zur Adresse von Friedrich Schneider auf.

Ich fand mich vor einem ähnlichen Gebäude wie unserem Parteigebäude in Bern. Ich klopfte dort an und es wurde mir aufgemacht. Sofort kamen zwei Männer heraus. Sie fragten mich nach meinem Namen und nach dem Grund, weshalb ich gekommen sei. Ich erklärte darauf, dass ich Manuel Lavater hiesse und gekommen sei, um Friedrich Schneider zu treffen. Als die Männer das hörten, liessen sie mich auf der Stelle hinein. Einer von ihnen lief voraus, um Friedrich Schneider zu benachrichtigen. Der andere führte mich die Treppenstufen hinauf, welche zum Büro von Friedrich Schneider führten. Als wir ankamen, empfing mich schon Friedrich Schneider. Er kam auf mich zu und begrüsste mich mit dem üblichen Gruss «Fründschaft». Sofort erwiderte ich seine Begrüssung. „Es freut mich, dich kennenzulernen, Manuel. Robert Grimm hat in seinem Schreiben nur Gutes über dich erzählt. Ich freue mich auf deine Unterstützung für die Nationalratswahlen. Du wirst ab sofort in der Redaktion meines Flugblattes «Vorwärts» arbeiten. Ausserdem wirst du sicher genug Gelegenheiten erhalten, um Reden zu halten. Zusammen werden wir in den Nationalrat eintreten und die Sozialdemokratie hier in Basel gross machen. Doch zuvor liegt noch einige Arbeit vor uns. Ich werde dich zudem noch mit einigen weiteren Mitstreitern bekannt machen.“

Friedrich Schneider war mir gegenüber sehr freundlich und zahlte mir ein ähnlich hohes Einkommen wie Robert Grimm damals. Davon gab ich immer einen grossen Teil meiner Familie ab. Das Einkommen reichte zudem, um eine neue Wohnung zu mieten, wo wir dann zusammenwohnten. Meine Arbeit bestand darin, Texte für das Flugblatt «Vorwärts» zu schreiben. Manchmal trat ich auch auf dem Basler Marktplatz auf und wies die Leute auf die Sozialdemokratische Partei hin. In den Texten, die ich schrieb, oder in den Reden, die ich hielt, lag der Fokus auf dem Versagen der bürgerlichen Politik und den Desinteressen der Reichen bezüglich der schlimmen Lage in der Arbeiterschaft. Mit Parolen machte ich sowohl im Flugblatt und in meinen Reden auf die Missstände in Basel aufmerksam:

„Die Arbeiter in Basel hungern, während sich die Kapitalisten mit 50% Dividenden der Chemiefabrikaktien die Taschen vollstopfen!“

„Die Kapitalisten halten sich die Hände vor den Augen. Wo ist die angemessene Hilfeleistung für die Armen?“

„Die Bauern horten ihren Überschuss an Nahrungsmittel und lassen die Arbeiter hungern. Die Regierung schaut nur zu!“

Ich machte den Leuten klar, dass es eine Alternative zur damaligen Regierung brauchte. Die Regierung war unfähig, gegen die vorhandenen Missstände zu handeln. Diese Alternative waren wir Sozialdemokraten. Wir versprachen den Leuten, gegen die starken Ungleichheiten zwischen Reich und Arm zu kämpfen. Wir versprachen ein Basel, ja eine Schweiz zu schaffen, in der jeder gleichberechtigt sein würde. Gleichzeitig prangerten wir die Armee in der Schweiz an: „Wir sind ein friedliches und demokratisches Land. Der Krieg und die Armee sind uns verhasst.“

In meinen Reden erhielt ich grosse Zustimmung von den Leuten. Sie sahen in mir und den Sozialdemokraten die Hoffnung gegen die Armut. Sie achteten uns, weil wir uns auf den Frieden, die Demokratie und die Gleichberechtigung beriefen. Sie sahen in uns ehrliche Männer, wenn nicht sogar Helden. So kam es, dass viele Leute uns zuliefen. Die Verkaufsmengen des «Vorwärts» erhöhten sich rapide und immer mehr Leute kamen, um mir zuzuhören. Friedrich Schneider freute sich sehr und hatte nur Lob für mich übrig: „Du bist wirklich ein grossartiger Politiker, Manuel.“ Es war schwierig für mich, in dieser Zeit bescheiden zu bleiben. Ich wollte hoch hinaus.

Zu dieser Zeit stellte mir Friedrich zwei seiner Freunde vor: Fritz Hauser und Walter Strub. Sie waren Politiker in der Basler Regierung. Fritz Hauser hatte ebenfalls vor, für die Sozialdemokraten in den Nationalrat des Kantons Basel-Stadt einzutreten. Ausserdem lernte ich Johannes Frei und Eugen Wullschleger kennen. Sie waren die damaligen sozialdemokratischen Nationalräte von Basel-Stadt. Unser Ziel war es, dass sie ihre Plätze im Nationalrat beibehalten würden und Friedrich Schneider, Fritz Hauser und ich dazu eintreten würden. Somit wären wir fünf Nationalräte von sieben in Basel-Stadt gewesen. In unserer Zuversicht redeten wir sogar davon, dass alle Nationalratssitze von Sozialdemokraten besetzt würden. Doch vorerst nahmen wir uns vor, die fünf Sitze zu besetzen.

Kapitel VI

Zwei Monate war ich nun schon in Basel. Unsere Ziele wurden immer greifbarer. Doch dann ereignete sich das Unerwartete. Überall bekam man davon mit in allen Zeitungen und auf den Strassen. Eine Krise entstand. Es war der 18. Juni 1917. In der ganzen Schweiz wurde bekannt, was Robert Grimm in Russland getan hatte. Die Franzosen hatten es geschafft, ein Telegramm abzufangen, welches Robert Grimm gesendet hatte. Dieses Telegramm gab den Alliierten Einblick über alle gemeinsamen Vorhaben von Robert Grimm und Arthur Hoffmann. Nach Abfangen des Telegramms wurde Robert Grimm von der damaligen Übergangsregierung gezwungen, Russland zu verlassen.

Die Entente verurteilten scharf seine Taten, denn Robert Grimms Friedensabsichten zwischen Russland und dem Deutschen Reich zugunsten aller Arbeiter waren ihnen ein Graus. Die Alliierten wollten Russland im Krieg gegen das Deutsche Reich beibehalten. Robert wurde schliesslich zu ihrer Zielscheibe. Auch Arthur Hoffmann kam unters Rad der Alliierten. Ihm wurde ein schlimmer Verstoss gegen die Neutralität vorgeworfen, welche die Schweiz doch so gut charakterisierte. In den Flugblättern wurde nur Schlechtes über die beiden berichtet. Robert Grimm wurde als verrückter Revolutionär abgestempelt. Der grosse Plan, welchen Robert Grimm und Arthur Hoffmann zusammen entworfen hatten, ging nach hinten los. Arthur Hoffmann musste seine Stellung als Bundesrat und Schweizer Aussenminister aufgeben. Der Verruf, in den Robert Grimm als Führer der Sozialdemokraten geriet, strahlte sich auf die ganze sozialdemokratische Partei in der Schweiz ab. Die bürgerlichen Parteien sahen ihren Moment gekommen. Mit Parolen und ausgestreckten Finger wiesen sie darauf: „Klar wollen diese vaterlandlosen Gesellen keine Armee in der Schweiz. Sie wollen damit die Türen für ihre Revolutionen öffnen. Seht doch, was ihr Oberhaupt Robert Grimm in Russland versucht hat. Unsere Pflicht der Neutralität hat er damit gebrochen.“ Von einem Tag zum anderen wandten sich sehr viele Leute von uns Sozialdemokraten ab. Ich wurde zum Buhmann derer, die mir nachgefolgt waren: „Ihr Sozialdemokraten seid genau wie alle anderen. Gegen aussen die guten Hirten, aber im Geheimen lauft ihr nur euren eigenen verrückten Plänen und Begierden nach.“

Es schmerzte mich, solche willkürlichen Vorwürfe zu ertragen. Aber ich konnte mich nicht wehren. Die Leute sahen uns nicht mehr als glaubwürdig an. Für sie war ich nur noch ein Lügner, ein Volksverhetzer. Friedrich Schneider rief zu einer Krisensitzung zusammen. „Was wollen wir tun?“, war die Frage. „Einfach weitermachen“, sagte Fritz Hauser. „Kämpfen um jeden Nationalratssitz, auf den wir noch eine Chance haben, und nicht aufgeben!“ Die anderen gaben sich einverstanden. Nur ich war des Kämpfens müde. „Noch diesen Kampf will ich beenden, für die Arbeiterschaft und unsere Partei“, dachte ich mir. Auch der «Vorwärts» verlor viele Leser. Wir mussten nicht nur moralisch, sondern auch finanziell viel einbüssen. Die Arbeit fiel mir ab diesem Tag viel schwerer. Trotzdem versuchte ich, so gut ich konnte, mich für unser Ziel einzusetzen. Ich ging auf den Marktplatz und redete, auch wenn die Leute dort nur noch Abneigung für mich übrig hatten. Ich schrieb Text um Text für den «Vorwärts», auch wenn nur noch wenige ihn lasen.

Die Zeit verging langsam. Doch mit jedem Tag, welcher sich den Nationalratswahlen näherte, stieg in mir die Spannung. Schliesslich, September war es schon, begann ich unsere Wahlplakate zu entwerfen. Der erste Gedanke, der mir zu einem guten Wahlplakat einfiel, war eine starke Hand, welche die sozialdemokratische Parteifahne trug. „Das ist zu simpel“, dachte ich mir, „zu simpel.“ Ich zeichnete mir die Vorstellung auf und tatsächlich gefiel sie mir. „Was würde Friedrich wohl dazu sagen?“, dachte ich mir. Ich stand auf, lief zu seinem Büro und zeigte ihm meine Skizze. „Gut“, sagte er, „das gefällt mir. Ich glaube, das nehmen wir.“ Ich war überrascht: „So simpel, aber doch so gut!“ In der Redaktion entwarfen wir noch einige weitere Wahlplakate. Alle waren zufrieden.

Doch eines Tages, als ich durch die Stadt ging, sah ich ein Wahlplakat der Bürgerparteien. „Die Sozialdemokraten, die gegen die Landesverteidigung sind, arbeiten daran, den Krieg ins Land zu lassen“, wurde darauf behauptet. Die Bürgerlichen verbreiteten es in der ganzen Stadt. Das Schlimme war, das Volk schenkte dem Plakat Aufmerksamkeit. Die bürgerlichen Parteien nutzten unseren schlechten Ruf aus, um damit ihre Wahlerfolge zu erzielen. Sie bildeten eine Einheit gegen uns Sozialdemokraten, einen Block. Gegen diesen Block anzurennen, vermochten wir nicht mehr.  Zu stark waren sie zusammen und das Volk, auf das wir zählten, hatte sich von uns abgewendet. Es lief den Parolen und den Lügen nach, welche die Bürgerlichen gegen uns verbreiteten. Von da an wagte ich kaum noch, vor dem Volk zu reden. Ich fürchtete die Abneigung, welche mich erwarten würde.

Eines Nachts riss ich heimlich ein solches Plakat herunter und nahm es mit, um es Friedrich Schneider zu zeigen. Er wurde zornig darüber und warf es in den Mülleimer. Ich erklärte ihm die Lage, in der wir uns befanden. „Ich glaube, es wird sehr schwierig, unsere Ziele zu verwirklichen, Manuel. Robert Grimm hat versagt und die ganze sozialdemokratische Partei leidet darunter. Der Erfolg liegt fern für uns, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir werden weiterkämpfen“, sagte er mir. Ich sah, wie niedergeschlagen er war, und so fühlte ich mich auch. All die Arbeit, die wir während dieser Zeit für unser Volk verrichtet hatten, schien keine Früchte zu tragen. Die Tage näherten sich den Wahlen und wir fühlten uns immer kraftloser.

Schliesslich begannen die zwei Wahltage. Es waren der 27. und 28. Oktober 1917. Ganz Basel gab seine Wahlstimmen ab. Es folgte darauf eine kurze Zeit des Ungewissen. Angespannt wartete die ganze Partei zusammen auf die Wahlergebnisse. Wir sassen alle im Parteibüro, bis ein Bote uns die Ergebnisse überbrachte. Ohne ein Wort zu sagen, kam der Bote mit niedergeschlagenen Kopf zu uns. Keine erfreulichen Ergebnisse erwarteten uns. „Wie viele haben es in den Nationalrat geschafft, Henrik?“ Doch der Bote gab keinen Mucks heraus. „Antworte Henrik!“, schrie Friedrich ihn schon fast erbost an. „Nur einer“, sagte er plötzlich, „nur Johannes Frei hat es geschafft, sich im Nationalrat zu halten. Sonst wurde keiner gewählt.“ Friedrich schüttelte nur den Kopf: „Es scheint so, als hätten wir bis jetzt nur Abfall geleistet. Ich rufe euch auf, nun weiterzukämpfen. Weitere Wahlen folgen noch, wo wir den Namen der Sozialdemokratie gross machen können.“ Als die anderen das hörten, klopften sie sich an der Brust, senkten ihren Kopf und verliessen den Raum. Auch ich beschloss den Raum zu verlassen. „Es ist genug für mich, Friedrich“, sagte ich fast unter Tränen. „Ich werde die Sozialdemokratie hinter mir lassen. Zu viel habe ich hingegeben, um in das gleiche Loch zurückzukehren, von wo ich gekommen bin. Leb wohl, Friedrich.“ – „Hör doch auf Manuel!“, rief mir Friedrich zu. „Du benimmst dich wie ein kleines Mädchen? Schäm dich.“ Doch ich schenkte seinen Worten keine Beachtung mehr. Zu sehr setzte mir diese Niederlage zu. Ich hatte keine Kraft mehr und meine Begeisterung für die Sozialdemokratie verschwand.

Dieses Gefühl verstärkte sich, als ich einige Tage später jemanden zufälligerweise antraf. Es war ein Mann, der mir sofort bekannt vorkam. Er schaute sich um, als würde er jemanden suchen. „Johannes?“, fragte ich mich. „Nein, das kann doch nicht sein.“ Ich lief in seine Richtung und, als wir ein paar Meter voneinander entfernt waren, sah er mich an und rief: „Manuel!“ Es war tatsächlich Johannes! Wir umarmten uns und freuten uns. Wir hatten so viel zu erzählen. „Als Erstes will ich dir sagen, dass du keinem sagen darfst, dass ich in der Schweiz bin. Ich bin ein Deserteur, Manuel. Wenn mich das Deutsche Reich erwischt, muss ich wieder zurück in den Krieg. Glaub mir Manuel, das will ich nicht. Der Krieg war die Hölle! Du kannst dir nicht vorstellen, wie es dort war. Die Mehrheit der Soldaten, mit denen ich gekämpft habe, ist gestorben und liegt auf den Schlachtfeldern. Ich will nicht so enden“, sagte er mir. Auch ich erzählte, wie ich die vergangenen Jahre erlebt hatte. „Lass uns das alles einfach hinter uns lassen“, sagte Johannes. „Lass uns in die alte Metallfabrik zurückkehren, wo wir einst arbeiteten. Ich habe gesehen, sie steht noch in Betrieb.“ Ich lachte nur. „Nach alldem, was wir erlebt haben, willst du wirklich in diese alte Fabrik zurückkehren?“ – „Ja“, sagte er, „überleg doch, was bleibt uns übrig in dieser Krisenzeit? Der Fabrikbesitzer weiss nicht, dass ich Deutscher bin. Ausserdem ging es uns doch immer gut dort. Denk doch an die ganze Zeit, die wir zusammen verbringen konnten. Es war hart, aber schön. Wenn wir uns Mühe geben, können wir, wenn aller Schrecken vorbei ist, ein eigenes Geschäft mit unserem Ersparten eröffnen.“ Ich erkannte, wie ernst er es meinte. Er hatte recht. Was blieb mir übrig, jetzt wo ich den Sozialdemokraten den Rücken gekehrt hatte? So kehrten wir in die alte Metallfabrik zurück und tatsächlich erhielten wir dort auch wieder unsere Anstellung zurück.

Kapitel VII

Es war Anfang 1918. Auf dem Nachhauseweg kam Johannes und mir ein Mann entgegen. Es war Robert Grimm. Was wollte er wieder von mir? „Fründschaft, Manuel“, rief er mir zu und nahm mich zur Seite. „Ich kann gut verstehen, dass du Friedrich den Rücken gekehrt hast. Er ist ein miserabler Sozialdemokrat. Er hat mir die Schuld in die Schuhe geschoben, statt für sein Versagen in Basel einzustehen. Doch lass das jetzt hinter dir. Ich habe in Olten zu einer grossen Versammlung ausgerufen. Alles soll dort neu geordnet werden. Es ist Zeit, dass wir Sozialdemokraten und die Gewerkschaften sich einigen. Zusammen werden wir für unsere Rechte kämpfen. Wir werden den Namen der Sozialdemokratie gross machen.“ – „Wie lange sagst du schon die gleichen Worte, Robert, und nichts hat sich jemals getan. Ich habe genug von der Sozialdemokratie. Mag sein, dass ihr Name gross wird. Aber ohne mich. Ich bin ein normaler Metallarbeiter; nicht mehr.“ – „So, so Manuel“, spottete Robert. „So viel hast du an meiner Seite für uns Sozialdemokraten investiert, um nur in das gleiche Loch zurückzukriechen, aus dem du gekommen bist.“ Er schüttelte den Kopf und entfernte sich langsam von mir. „‚Leb wohl, Robert“, rief ich ihm zu. Ein letztes Mal blickte er mir zurück und antwortete leise: „Ja, Manuel. Leb auch wohl.“ Kurz danach spürte ich die Hand von Johannes auf meiner Schulter. „Gut gemacht Manuel“, sagte er. „Du hast die Vergangenheit jetzt hinter dir gelassen.“ – „Ja“, sagte ich, „das habe ich. Lass uns jetzt zusammen nach Hause gehen.“

Plötzlich höre ich jemanden an die Türe klopfen. Das muss Johannes sein. Ich laufe hin und öffne sofort die Tür. „Mein guter Freund, Manuel. Wie schön ist es, dich wiederzusehen! Wie läuft unser altes Geschäft?“ – „Sehr gut, Johannes. Du kannst es dir nicht vorstellen“, antworte ich. Eine starke Umarmung folgt. „Ich habe gerade an die Zeit während dem grossen Krieg zurückgedacht.“ – „Ja, ich auch“, antwortete Johannes. „Es begann alles im August 1914 …“