Forschung als Teil von Wiedergutmachung

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Aktenzeichen, Blogserie

Aus einem Kinderheim des Frauenvereins 1956, Foto Hans Bertolf. Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-826 1

Ein Beitrag von Miriam Baumeister, Projektmitarbeiterin Aufarbeitung fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im Staatsarchiv Basel-Stadt

„Ach, das ist das mit den Verdingkindern!“ – diese Aussage höre ich nur allzu häufig, wenn ich von meiner Arbeit im Staatsarchiv erzähle. Die Aussage erhellt zweierlei: Einerseits ist das Schicksal der Verdingkinder heute mehr oder weniger im kollektiven Bewusstsein angelangt. Andererseits sind den meisten Menschen die vielfältigen Formen, welche die Fremdplatzierung und die damit verbundenen Zwangsmassnahmen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Vergangenheit angenommen haben, gar nicht bewusst.

Um eines vorweg zu nehmen: „Verdingt“ wurde in Basel-Stadt so gut wie niemand. Denn im wissenschaftlichen Kontext bedeutet „verdingen“, die Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen auf einem Bauernhof mit der Verpflichtung zur Arbeit und gegen das kleinstmögliche Kostgeld, das die versorgende Stelle an die Bauern zu zahlen hatte. Im Gegensatz zum Kanton Bern hat dies in Basel-Stadt nur äusserst selten stattgefunden oder wenn überhaupt, nur verdeckt. Nichtsdestotrotz hatte der Kanton bereits früh und bis in die heutige Zeit ein sehr kleinteiliges und schwer überschaubares Heimwesen. Träger waren neben dem Staat verschiedene Religionsgemeinschaften, Verbände und Privatpersonen. Der Staat führte unzählige Vormund- und Beistandschaften, betrieb die Psychiatrie und überwachte das Pflegekinderwesen sowie Adoptionen. Aus heutiger Sicht sind viele der angewandten Praktiken und Begründungsmuster mehr als fragwürdig und haben bei den Betroffenen oft tiefe Wunden hinterlassen.

Entwicklung der wissenschaftlichen Untersuchungen

Auf Grund dieser Feststellung und insbesondere durch den Druck der ehemals Fremdplatzierten befasst sich die Wissenschaft in der Schweiz seit einigen Jahren verstärkt mit dem Thema. Die erste Welle der wissenschaftlichen Arbeiten untersuchte in den 1990er-Jahren das Schicksal der jenischen Kinder, die im Rahmen der Aktion „Kinder der Landstrasse“ der Pro Juventute ihren Eltern weggenommen wurden. Seit der Jahrtausendwende rückten dann die „Verdingkinder“ in den Fokus, die unter den widrigsten Bedingungen auf Bauernhöfen arbeiten mussten. Durch die Berichte von Betroffenen, wurden mehr und mehr Heimskandale publik. Zudem war es in der Schweiz bis 1981 möglich, Menschen (auch Erwachsene) „administrativ zu versorgen“, das heisst ohne Gerichtsbeschluss oder Rekursrecht und ohne absehbares Ende in Anstalten, Psychiatrien und auch ins Gefängnis einzuweisen. Durch die wissenschaftliche Aufarbeitung konnte anhand Studien einzelner Institutionen und Kantone gezeigt werden, dass es sich bei körperlicher, sexueller und seelischer Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in Heimen nicht um Einzelfälle handelte. Das Fürsorge- und Heimsystem begünstigte diese Praktiken und Betroffene waren ihnen „hinter dicken Mauern“ oft schutzlos ausgesetzt. Gleichzeitig fehlte es lange Zeit an gesamtschweizerischen Darstellungen.

Relevante historische Daten sind dabei die Einführung des Zivilgesetzbuches (ZGB) im Jahr 1907, des Schweizerischen Strafgesetzesbuches mit gesondertem Jugendstrafrecht 1942 und dessen Erneuerung 1974, die Einführung des neuen Kindesrechts 1978 und die Abschaffung der administrativen Versorgungen 1981. In neuerer Zeit ist besonders die Einführung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts im Januar 2013 und die damit verbundene Ablösung der Vormundschaftsbehörden durch die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) zu nennen.

Historikerinnen und Historiker heute sind oftmals besonders interessiert an historischem Wandel. Also versuchen sie, solche Daten wie die oben genannten anhand von Akten und Zeitzeugenberichten zu überprüfen, um herausfinden, ob sie tatsächlich Zäsuren markieren. Es geht darum, die fürsorgerischen Massnahmen in ihrer ganzen Breite sichtbar zu machen und aufzuarbeiten. Für die Betroffenen ist dies oftmals ein wichtiger Schritt in der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen. Im Fall von staatlichem Handeln dienen die Erkenntnisse auch dazu, Fehler der Vergangenheit nicht noch einmal zu begehen.

Politischer Aufarbeitungsprozess

2013 entschuldigte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga in einem symbolischen Schritt bei allen Verdingkindern, dass der Staat dieses Unrecht zugelassen hatte. Im Frühjahr 2013 wurde ein sogenannter Runder Tisch eingerichtet, an dem Opfer, Behörden- und Institutionsvertreter ins Gespräch kommen konnten. Im Herbst desselben Jahres beschloss das Parlament die Rehabilitation der administrativ versorgten Menschen. In der Umsetzung dieses im März 2014 in Kraft getretenen Bundesgesetzes setzte der Bundesrat im November 2014 die sogenannte Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen ein, deren Auftrag die wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik ist.

Da sich diese Massnahmen auf die administrativ versorgten Personen fokussierten und zudem keine finanzielle Wiedergutmachung boten, reichten Betroffene mit Unterstützung der Guido-Fluri-Stiftung im Dezember 2014 die Wiedergutmachungsinitiative ein. Diese forderte eine finanzielle Wiedergutmachung aller Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Im politischen Prozess führte dies dazu, dass zunächst ein Soforthilfefonds für dringende Fälle eingerichtet wurde. Der Bundesrat erarbeitete im Dezember 2015 einen indirekten Gegenvorschlag dazu und einen Entwurf zum Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG). Das AFZFG wurde im Parlament 2016 beraten und trat schliesslich im April 2017 in Kraft. In der Umsetzung dieses Gesetzes haben nun alle Betroffenen noch bis zum 31.03.2018 die Möglichkeit einen Antrag auf Wiedergutmachung in Form eines sogenannten Solidaritätsbeitrags beim Bundesamt zu Justiz zu stellen. Zudem gewährleisten beide oben genannten Gesetze allen Betroffenen die einfache und kostenfreie Einsicht in die Akten zu ihrer Person.

Aktueller Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung / Arbeiten zu Basel

Will man sich über den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung fürsorgerischer ZWangsmassnahmen in der Gesamtschweiz informieren, so empfiehlt sich der 2014 erschienene Sammelband „Fürsorge und Zwang. Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz 1850-1980“. Zudem informiert die UEK Administrative Versorgungen laufend über alle Forschungsarbeiten, auch Abschlussarbeiten und Studien mit lokalem Fokus. Für 2019 wird ausserdem der Abschlussbericht der UEK erwartet.

Auch zur Region Basel wurde und wird geforscht. Viele Unterlagen dazu befinden sich im Staatsarchiv Basel-Stadt. Zum Stadtkanton ist besonders Mirjam Häslers Arbeit zum Kost- und Pflegekinderwesen des Basler Frauenvereins lesenswert. Zurzeit arbeitet zudem ein Forscherteam daran, eine Geschichte des Bürgerlichen Waisenhauses aufzuarbeiten. Das Buch soll zum 350-jährigen Jubiläum 2019 erscheinen. Ausserdem sind in den letzten Jahren diverse universitäre Masterarbeiten sowie eigene Publikationen der Institutionen entstanden. Hier empfiehlt sich ein Blick in die Bibliothek und in die Drucksachensammlung des Staatsarchivs. Dort finden sich sogar viele Werke, die in keinem Verlag erschienen und sonst nur schwer erhältlich sind. Des weiteren werden in den nächsten Jahren mehrere Dissertationen zu Basler Vormundschaftswesen im Vergleich (Mirjam Janett und Gianna Weber) und zum Heim- und Massnahmenwesen für Jugendliche (Alena Blättler und Miriam Baumeister) erscheinen. Auch bei der umfangreichsten Arbeit zum Kanton Basel-Landschaft handelt es sich um eine Promotionsarbeit: Ernst Guggisberg untersuchte in seinem 2016 erschienen Buch die Jugendfürsorge des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins. Zudem sind 1996 zur Arbeitserziehungsanstalt Arxhof in Niederdorf und 2008 zum Heim Mariahilf in Laufen Monographien erschienen.

Es zeigt sich also, dass sich in den letzten zwanzig Jahren viel getan hat, was die gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Anerkennung und Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen angeht. Gleichsam bleibt viel zu tun, der Aufarbeitungsprozess ist noch voll im Gange. Dies ist im Sinne der Betroffenen, aber auch der Gesellschaft, sinnvoll und wünschenswert. Denn auch wenn die jetzige Arbeit für viele, die bereits verstorben sind, zu spät kommt, so kann sie doch helfen, Leitplanken für zukünftige Entscheidungen im Sozialwesen zu setzen. Ein Teil dieser Bewusstwerdung kann dabei auch über autobiografische Bücher wie das von Hanspeter Bobst erfolgen.

Weiterführende Literatur

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