Lieblingsstücke

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Anlässe

Urbar zum Grundbesitz des Klosters St. Alban. Staatsarchiv Basel-Stadt, Klosterarchiv St. Alban DD 1 1572/73

In der Region Basel engagieren sich zahlreiche Archive für die Erhaltung von Kulturerbe. Was verbindet sie, was sind ihre Aufgaben, was ihre Schätze und Sorgen? Darüber tauscht man sich laufend aus, aber oft fehlt auch die Zeit. Da bot das 100-jährige Bestehen der Dachorganisation «Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA)» eine ideale Gelegenheit. Im Rahmen dieses Jubiläums zirkuliert eine Archivschachtel während Monaten in der schweizerischen Archivlandschaft und sammelt Beiträge von VSA-Mitgliedern. Nachzuverfolgen unter #archivonline auf Twitter oder auf der Homepage des VSA.

Was könnte der Beitrag aus Basel sein? Die zündende Idee von Irene Amstutz (Schweizerisches Wirtschaftsarchiv) und Nathalie Baumann (Universitätsbiliothek): Wir laden die Mitarbeitenden unterschiedlichster Archive aus der Region Basel zu einem Treffen ein, unabhängig davon, ob sie Mitglied des VSA sind. Veranstaltungsort ist die Universitätsbibliothek Basel. Dort ist ab April 2022 die Ausstellung «Lieblingsstücke» mit ausgewählten Dokumenten aus den Bibliotheks-und Archivbeständen der UB zu sehen.

Alle teilnehmenden Archive brachten zu diesem Treffen (es fand am 7. April statt) in einer Archivschachtel ein eigenes «Lieblingsstück»: eine Archivalie, die ihnen am Herzen liegt, typisch ist oder ausserordentlich, oder mit der sich eine bestimmte Fragestellung verbindet. Vor Ort gab es zudem die Möglichkeit, sein «Lieblingsstück der Zukunft» zu beschreiben: Was möchten die Archive im Jahre 2122 an so einer Veranstaltung präsentieren können? Was könnten ihre künftigen «Lieblingsstücke» sein? Wo gilt es Schwerpunkte der Überlieferungs-und Bestandsbildung, der Erforschung zu setzen? Wo gibt es Bedarf zu konservatorischem Engagement, damit ein potenzielles Lieblingsstück erhalten bleibt? Die Liste aller «Lieblingsstücke» wurde anschliessend in die VSA-Schachtel gelegt, als Beitrag der Archivlandschaft Basel zum Jubiläumsprojekt «archive on tour».

Impressionen des Netzwerktreffens vom 7. April. Fotos: Johann Frick / Universitätsbibliothek Basel, Christoph Manasse / Staatsarchiv Basel-Stadt.

Musik aus Basel

Was ist denn das Lieblingsstück des Staatsarchivs Basel-Stadt? Die Liste potenzieller Favoriten ist unendlich lang. Der Entscheid fiel letztlich auf das oben abgebildete Urbar: eine an sich nüchterne Auflistung von Besitzrechten – und gleichzeitig ein exemplarisches Schaustück. Es macht sichtbar, wie Menschen Dinge nutzten, umnutzten, umwerteten. Der Umschlag zu diesem Verzeichnis des 16. Jahrhunderts ist nämlich zwei- bis dreihundert Jahre älter. Hier wurde ein Fragment aus einem Brevier des 13. / 14. Jahrhunderts verwendet respektive wiederverwendet. Im Zuge der Reformation hatten die mittelalterlichen Gesangs- und Liturgiebücher ihre Funktion verloren. Sie wurden aber nicht vernichtet, sondern aufgrund ihres Materialwerts recyclet: zu Umschlägen für Bücher, die in dieser Epoche nun als nützlich und wertvoll erachtet wurden. In diesem Urbar überlagern sich so historische Sedimentschichten, die von den vielen Stationen des Objekts zeugen. Unterschiedliche Notationen verweisen darauf, dass bereits das ursprüngliche Gesangsbuch mit neuerer Notation ergänzt worden war. Sichtbar werden die Spuren der Umnutzung, Leder- und Hanffäden der Bindung; sichtbar werden die durch lange Lagerung entstandenen Abdrücke der Bindeschüre und die Spuren der Holzwürmer aus den Archivregalen.

Dieses Archivstück bringt einerseits den Kern des Archivs zum Ausdruck: Dokumente wurden zum Zweck der Rechtssicherung aufbewahrt. Für die damaligen Archivare war der Inhalt wichtiger als der Umschlag. Andererseits widerspiegelt das Urbar auch die grosse Verschiebung eines einst immateriellen Werts (des liturgischen Gesangs) zum materiellen Nutzwert (dem Pergament). Im Laufe der Zeit wandelte sich auch dieser ökonomische, politische, gesellschaftliche Nutzwert – das Urbar wurde zum historischen Objekt, zum Forschungs- und Erinnerungsstück.

Und wunderbarerweise kann so ein Pergament Jahrhunderte später plötzlich wieder zu Musik werden. An der Museumsnacht vom 13. Januar 2012 erfüllte ein Gesangsensemble das Staatsarchiv mit dem verzaubernd fremden Klang genau jener Gesänge, welche die fünf Sängerinnen den Buchumschlägen entnahmen